Nerven für die Abwehr
06.08.2013
Wer sich unmittelbar vor, während oder direkt nach einer Führerscheinprüfung, einer Rede oder einem Fallschirmsprung das Blut untersuchen lassen würde, wäre erstaunt: die Zahl bestimmter Abwehrzellen im Blut ist angestiegen. Das Immunsystem wird also bei akutem Stress kurzzeitig aktiver.
Eher schwächer wird es, wenn Menschen anhaltend in belastender Weise unter Stress stehen. Sie werden dadurch beispielsweise anfälliger für Erkältungen. Außerdem können bei anhaltendem Stress bestimmte Botenstoffe des Abwehrsystems in so großer Menge frei werden, dass dies dem Körper schadet. Tipps gegen Stress stehen im Kasten links.
Wie sich solche Reaktionen erklären lassen, wie also Zellen und Organe des Abwehrsystems mit dem Nervensystem in Verbindung stehen, wird bereits länger intensiv erforscht. Man weiß mittlerweile, dass Nervenfasern des unwillkürlichen Nervensystems bis an die Orte verlaufen, an denen Abwehrzellen gebildet oder angesiedelt werden. Bekannt ist auch, dass Nervenbotenstoffe Abwehrzellen beeinflussen. Außerdem können wiederum viele der von Abwehrzellen gebildeten Botenstoffe auf Nervenzellen im Gehirn zurückwirken. Es bestehen also viele im Detail sehr komplizierte Wechselwirkungen zwischen Abwehr- und Nervenzellen.
Eigene Abwehrtruppe im Gehirn
Eine Sonderstellung im Abwehr- und Immunsystem haben das Gehirn und das Rückenmark. Zwischen Gehirn und Rückenmark auf der einen Seite und dem restlichen Körper auf der anderen Seite besteht eine Barriere, die sogenannte Blut-Hirn-Schranke. Auch Abwehrzellen kommen hier normalerweise nicht ohne Weiteres durch. Zum Schutz des Gehirns gibt es daher eine eigene Abwehr- und Wartungstruppe. Sie besteht aus unzähligen, im Nervengewebe ansässigen Abwehrzellen, fachsprachlich Mikroglia genannt.
Eine wichtige Funktion haben Mikrogliazellen bei der Hirnreifung nach der Geburt: Sie beseitigen nicht mehr benötigte Nervenzellen und Kontaktstellen im Nervensystem, sogenannte Synapsen. Später besteht ihre Hauptaufgabe darin, mit ihren Ausläufern beständig das sie umgebende Nervengewebe zu kontrollieren. Stoßen sie dabei auf Krankheitskeime oder Gewebeschäden, werden sie beweglich, beseitigen Keime und lösen Entzündungsreaktionen sowie Reparaturvorgänge aus.
Gefahr durch fehlgeleitete Abwehr
Unter ungünstigen Umständen kann es geschehen, dass Zellen des Immunsystems fälschlicherweise Hirngewebe angreifen, so wie etwa bei der Multiplen Sklerose. Es gelingt dabei Abwehrzellen aus dem Blut, über die Blut-Hirn-Schranke in Nervengewebe einzuwandern und dort Entzündungsreaktionen hervorzurufen. Zudem kommt es zu einer Aktivierung der hirneigenen Abwehrtruppe, der Mikroglia, die dem Nervensystem nützen, mitunter aber auch schaden kann. Forscher versuchen, die dabei ablaufenden Vorgänge genauer zu verstehen, um möglicherweise neue Behandlungsstrategien bei der Therapie der Multiplen Sklerose zu finden. Und das versuchen sie genauso bei der Alzheimer-Erkrankung (siehe Infokasten links unten).
Schaden kann das Immunsystem auch an Nervenverbindungen außerhalb des Gehirns verursachen. Bei der so genannten Myasthenia gravis zum Beispiel bildet das Immunsystem bestimmte Antikörper, die dafür sorgen, dass Nervenreize nicht mehr richtig auf Muskelfasern übertragen werden. Eine fortschreitende Muskelschwäche ist die Folge. Daher versucht man, das Immunsystem der Betroffenen mit Medikamenten zu dämpfen.
Es gibt also neben vielen unentbehrlichen auch einige weniger vorteilhafte Beziehungen zwischen dem Nerven- und dem Abwehrsystem, die Gegenstand intensiver medizinischer Forschung sind.
Dr. Frank Schäfer