Nocebo-Effekt: Wenn Arzneien Angst machen

Apotheker Rüdiger Freund | 01.10.2022

Die menschliche Psyche redet bei jeder medizinischen Behandlung ein Wörtchen mit. Im Guten wie im Schlechten. Nocebo-Effekt nennen es Ärzte, wenn Erwartungen und Ängste den Behandlungserfolg gefährden.
Ängste und Sorgen bei der Einnahme von Medikamenten, zum Beispiel wegen potenzieller Nebenwirkungen, können tatsächlich dazu führen, dass man diese verstärkt spürt. image.originalResource.properties.copyright

Die meisten Menschen kennen den Placebo-Effekt. Er besagt, dass Medikamente ohne Wirkstoff sehr wohl wirken können. Allein durch die Einnahme eines Arzneimittels bessern sich vielfach schon die Beschwerden, bevor die eigentliche Wirkung überhaupt einsetzen kann. Daher gehört es heute zum Standard in Studien, eine Gruppe von Teilnehmern mit Placebos zu behandeln, ohne dass Patienten oder Ärzte davon wissen. Dies macht das Ausmaß des Placebo-Effekts messbar. Hat das richtige Arzneimittel in der Studie eine größere Wirkung als Placebo, geht man davon aus, dass es tatsächlich wirkt.

Negative Erwartungen

Genauso wie es im Positiven funktioniert, tritt mitunter auch das Gegenteil ein: Wissenschaftler von der Uniklinik Hamburg-Eppendorf zeigten dies in einer Studie mit dem stark wirksamen Schmerzmittel Remifentanil. Bei Testpersonen, denen man gesagt hatte, dass ihre Infusion gegen den Schmerz keinen Wirkstoff mehr enthielt, kehrte der Schmerz zurück. Und das, obwohl sie entgegen der Aussage der Ärzte unverändert den Wirkstoff erhalten hatten. Bei dem Schmerz handelte es sich jedoch keineswegs um eine Einbildung der Testpersonen. Hirnscans zeigten Nervenaktivität, die auf realen Schmerz hindeutete. Der Nocebo-Effekt hatte hier die Wirkung des Medikaments überlagert und abgeschaltet. Ein weiteres Beispiel für den Nocebo-Effekt kennen Ärzte und Apotheker aus langjähriger Erfahrung. Viele Patienten beklagen nach einem Wechsel von ihrem gewohnten Präparat auf ein wirkstoffgleiches Mittel, dass das neue nicht so gut wirkt oder mehr Nebenwirkungen hat. Hier schmälert die Skepsis dem neuen Medikament gegenüber die eigentlich unveränderte Wirkung.

Noch weitere Faktoren, die negative Erwartungen oder gar Angst auslösen, können den Behandlungserfolg schmälern. Eine große Rolle spielt das Verhalten des medizinischen Personals dem Patienten gegenüber. Stehen etwa im Beratungsgespräch die Nebenwirkungen einer Behandlung im Mittelpunkt, wird der Patient sie häufiger spüren. Heutzutage informieren sich Patienten oft selbst im Internet oder in den Medien. Sie entwickeln dabei eine bestimmte Einstellung zu medizinischen Themen. In der Coronapandemie wurde das besonders deutlich. Die oft verunsichernde Berichterstattung in Massenmedien schürte Vorbehalte gegenüber Impfstoffen und betonte mögliche Nebenwirkungen. Das Ziel der Impfung – nicht an potenziell lebensgefährlichem Covid-19 zu erkranken – geriet dadurch mitunter zur Fußnote.

Hinweise auf einen Nocebo-Effekt fanden italienische Forscher bei der Analyse zahlreicher Studien zu Covid-19-Impfstoffen. Die häufigen Nebenwirkungen wie Kopf- und Muskelschmerzen oder Müdigkeit ähnelten in den Placebo-Gruppen denen der realen Impfstoffe. Die Forscher führen das auf negative Erwartungen zurück.

Mehr Zuversicht wecken

Mittlerweile setzt sich die Erkenntnis durch, dass zur Behandlung nicht nur die richtigen Medikamente und Anwendungen gehören. Die richtige Art, sie dem Patienten zu erklären, bildet die Kunst, die eine Therapie optimiert. Es geht nicht darum, Nebenwirkungen zu verschweigen oder den Patienten im Unklaren zu lassen. Aber die Zuversicht, eine gute und verträgliche Behandlung zu erhalten, trägt maßgeblich zur Genesung bei.