"Bei einem orthorektischen Essverhalten versuchen Menschen, nur Nahrungsmittel zu verzehren, die sie subjektiv als gesund empfinden", erklärt Dr. Friederike Barthels von der Abteilung Klinische Psychologie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Der Grund, sich verstärkt mit gesunder Ernährung zu beschäftigen, sei oft die Angst vor Krankheiten oder der Wunsch, bereits bestehende Symptome zu lindern, so die Psychologin.
Dabei gilt eine gesunde Ernährung natürlich keinesfalls als schlecht. "Bei einer Orthorexie bauen sich Betroffene jedoch ihr eigenes Konstrukt einer gesunden Ernährung auf", so Barthels. In der Folge streichen sie nach und nach immer mehr Lebensmittel von ihrem Speiseplan oder ernähren sich nur noch einseitig. Manche verzichten zum Beispiel auf spezielle Lebensmittel-Zusatzstoffe, andere essen bestimmte Dinge täglich, weil sie gelesen haben, dass diese vor Krankheiten wie Krebs schützen sollen. Wieder andere vermeiden Obst- oder Gemüse-Sorten, die sie nicht als gesund erachten.
Mangelerscheinungen, Ängste, sozialer Rückzug
Problematisch wird es, wenn sich Betroffene so stark einschränken, dass es zu Mangelerscheinungen kommt, wenn etwa die verzehrte Energiemenge den -bedarf nicht deckt oder durch die einseitige Ernährung bestimmte Nährstoffe fehlen. Ein anderer Aspekt betrifft die Psyche. Drehen sich die Gedanken nur noch darum, was man als nächstes isst, wo man es herbekommt und wie man es zubereitet, kann dies zu Konzentrationsschwierigkeiten und Stress führen. Sorgen und Ängste bestimmen dann nicht selten die Gedankenwelt.
Bedenklich wird es zudem, wenn sich Betroffene sozial zurückziehen. "Essen ist ja oft ein gesellschaftliches Ereignis: Man verabredet sich zum Abendessen oder zelebriert das Weihnachtsessen mit der Familie", sagt Barthels. Aus Angst, mit Ungesundem konfrontiert zu werden, grenzen sich Betroffene häufig aus. Für Außenstehende wirkt ein solches Essverhalten oft zwanghaft. Die Psychologin betont jedoch, dass diese Art der Zwanghaftigkeit eher mit der bei anderen Essstörungen vergleichbar sei als mit der, die man von Patienten mit einer Zwangsstörung her kenne. "Der Zwangspatient weiß beispielsweise, dass es nicht gut ist, sich 20-mal am Tag die Hände zu waschen. Menschen mit orthorektischem Essverhalten denken dagegen, dass es gesund und sinnvoll ist, was sie tun."
Umgekehrt dürfen aber auch Außenstehende nicht vorschnell urteilen, denn nicht jede besondere Ernährungsform ist gleich eine Orthorexie. "Mein Lieblingsbeispiel ist die vegane Ernährung. Hier denken andere auch häufig, dass sich Veganer stark einschränken", so Barthels. Doch so lange eine Person nicht darunter leide, es kein Problem darstelle und auch keine Mangelerscheinungen aufträten, könne man es auch nicht als gestörtes Essverhalten betrachten. "Ernährung ist etwas sehr Persönliches, das jeder für sich entscheidet. Die Grenze zu ziehen, wann etwas auffällig oder problematisch ist, ist wirklich schwierig."
Eigene Form der Essstörung?
Auch wissenschaftlich abgrenzen lässt sich die Essstörung derzeit noch nicht. Abgesehen von der Frage, wann genau man von Orthorexie spricht, weiß man ebenfalls noch nicht, ob es sich dabei um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt oder möglicherweise nur um einen speziellen Aspekt einer der bekannten Essstörungen. Vor allem mit der Magersucht gibt es offenbar oft Überschneidungen. Zudem seien Fälle bekannt, in denen eine Orthorexie einer Magersucht vorausgehe oder dieser folge. Wie häufig orthorektisches Essverhalten ist, lässt sich daher nicht genau sagen. Nach Barthels Schätzung dürfte der Anteil der Betroffenen jedoch deutlich unter 1 Prozent liegen – und damit ähnlich wie bei anderen Essstörungen, so die Psychologin.
Hanke Huber