Was fehlt noch am endgültigen und ewigen Aus für Polio? Ein Interview mit Reisemediziner und Assistant District Governor der Rotarier in Hessen, Dr. Bernd Thoma aus Eschborn.
Dr. Thoma, mittlerweile kann man die Fälle von Kinderlähmung weltweit fast an einer Hand abzählen. Wie viele sind es aktuell?
Thoma: Für 2017 sind weltweit nur 22 Poliofälle gemeldet worden. Davon 14 aus Afghanistan und 8 Fälle aus Pakistan. Im Vorjahr 2016 waren es insgesamt 34 Poliofälle.
Und in Deutschland?
Thoma:Die letzte Polioepidemie in Deutschland überrollte uns 1961 mit 4 594 Poliofällen, darunter 306 Todesfälle. Nach Einführung der Polioschluckimpfung 1962 sanken die Fallzahlen kontinuierlich. Seit 1990 ist Deutschland poliofrei. Zur Aufrechterhaltung der Poliofreiheit ist jedoch die Fortsetzung der Polioimpfung erforderlich.
Ich selbst habe in meiner Jugend noch Menschen mit Kinderlähmung erlebt …
Thoma: Man sieht ja auch heute noch die Menschen mit den Folgeschäden. Polio hinterlässt in vielen Fällen bleibende Muskellähmungen. Nach durchgemachter Polioerkrankung kann außerdem in einigen Fällen 30 bis 50 Jahre später ein sogenanntes Postpolio-Syndrom entstehen, das durch zunehmende Muskelschwäche charakterisiert ist. Dafür gibt es in Deutschland übrigens eine einzigartige therapeutische Einrichtung, nämlich die Poliostation im Brüderkrankenhaus Koblenz.
Was war für den dramatischen Rückgang der Krankheitsfälle ausschlaggebend?
Thoma: Aus meiner Sicht haben die nachfolgenden Faktoren wesentlich zur Poliofreiheit in Deutschland beigetragen:
• Gute Wirksamkeit und unkomplizierte Verabreichung der Schluckimpfung
• Gut organisierte Impfkampagne auf Deutschlandebene
• Hohe Impfquote bei Kindern von mehr als 90 Prozent und damit ausreichende sogenannte Herdenimmunität
• Gute Akzeptanz der Impfung in der Allgemeinbevölkerung
Vor zwei Jahren plötzlich meldete Nigeria wieder mehrere Fälle von Polio. Kommt Polio nun doch noch mal zurück? Kann das auch bei uns passieren?
Thoma: Im Juli 2016 sind nach erreichter Poliofreiheit wieder mehrere Poliofälle in Nigeria aufgetreten. Durch gezielte epidemiologische Gegenmaßnahmen wie Impfkampagnen und Laborüberwachung sind weitere Fälle vermieden worden. Nigeria war 2017 wieder ohne Poliofälle. Zur Zertifizierung als poliofreies Land verlangt die Weltgesundheitsorganisation WHO allerdings das Fehlen von Poliofällen für drei aufeinanderfolgende Jahre. In Deutschland ist die Einschleppung von einzelnen Poliofällen aus dem Ausland prinzipiell möglich; die Ausbreitung stellt jedoch durch die hohe Impfquote bei Kindern (über 90 Prozent) und bei Erwachsenen (über 86 Prozent) nur ein bedingtes Risiko dar und könnte durch schnelle und geeignete seuchenhygienische Gegenmaßnahmen gut beherrscht werden. Die letzten vereinzelten eingeschleppten Poliofälle stammen aus 1992.
Die Impfkampagne ist von namhaften privaten Spenden - gebern unterstützt worden. Der Bill-Gates-Stiftung und den Rotariern. Warum gerade Polio?
Thoma: Rotary International hat seit 1978 intensiv nach globalen gemeinnützigen Hilfsprojekten gesucht. Da führende Seuchenexperten und sogar der Erfinder der Schluckimpfung, Dr. Albert Sabin, auch Rotarier waren, setzte sich die Idee der Poliobekämpfung durch. Rotary International begann sehr erfolgreich die Poliobekämpfung in den Philippinen 1979 als Pilotprojekt. Mit diesen guten Erfahrungen stellte Rotary International 1985 ihr Programm Polio plus zur Poliobekämpfung vor. 1988 beschloss die WHO die weltweite Ausrottung von Polio. Das weltbekannte Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta/USA und UNICEF zogen mit. Seit 2007 unterstützt die Bill & Melinda Gates Foundation massiv die Polio-Kampagne. Alle zusammen organisieren sich in der Global Polio Eridication Initiative (GPEI ). Die Gates-Stiftung verdreifacht jeden Spendenbeitrag von Rotary für die nächsten drei Jahre; es werden hier insgesamt 450 Millionen US-Dollar erwartet. Diese weltweit größte private Stiftung hat einen
Förderungsschwerpunkt auf globaler Gesundheit.
In welchem Umfang haben die Rotarier geholfen?
Thoma: Die Rotarier sammeln dafür in ihren lokalen Clubs, und das weltweit. Bislang hat Rotary International über den Zeitraum von rund 30 Jahren mehr als 1,7 Milliarden US-Dollar an Spendengeldern aufgebracht.
Wann werden wir mit Polio weltweit bei Null sein?
Thoma: Das Ziel von Null Poliofällen weltweit ist greifbar nahe! In den beiden verbliebenen endemischen Ländern Pakistan und Afghanistan konzentrieren sich alle Anstrengungen der GPEI auf Impfkampagnen und Überwachungsmaßnahmen. Eine weltweite Ausrottung der Polio innerhalb der nächsten drei bis fünf Jahre scheint mir persönlich bei optimalem Verlauf der Impfkampagnen und anderer Seuchenbekämpfungsmaßnahmen möglich.
Die Fragen stellte Jutta Petersen-Lehmann.