"Viele Medikamente, die wir schätzen, sind aus naturheilkundlichen Arzneien entstanden, die über die Jahrtausende erhalten und zum Teil weiterentwickelt wurden", sagt Dr. Linda Tan, Allgemeinmedizinerin und Leiterin des Zentrums für Naturheilkunde und Schmerztherapie in Düsseldorf. So nutzte beispielsweise schon der griechische Arzt Hippokrates Extrakte der Weidenrinde, um fieberhafte Infekte zu behandeln. Solche Extrakte enthalten unter anderem Salicin, das im Körper zu Salicylsäure umgewandelt wird. Aus Salicylsäure wurde später die besser verträgliche Acetylsalicylsäure – kurz ASS − hergestellt. "Sie steht seit 1977 auf der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der WeltgesundheitsorganisationWHO", so Dr. Tan.
Die Expertin kennt viele weitere Beispiele aus vergangenen Jahrhunderten: Etwa schmerzlindernde Opiate aus Schlafmohn oder das Digitoxin aus Blättern des roten Fingerhutes (Digitalis purpurea), eingesetzt etwa bei der Therapie von Herzschwäche. Oder den einjährigen Beifuß (Artemisia annua), eine Pflanze, mit der die chinesische Pharmakologin Youyou Tu Medizingeschichte schrieb. Sie erhielt 2015 den Nobelpreis dafür, dass sie den aus dieser Pflanze isolierten Stoff Artemisinin zur Behandlung von Malaria dank der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) wiederentdeckte. Die Wirkung der Pflanze wurde schon im Jahr 200 vor Christus in der TCM-Literatur beschrieben, und heute ist Artemisinin eine Arznei, die das Leben von Millionen Menschen rettet, vor allem in Entwicklungsländern.
Bewährt haben sich aber nicht nur alte pflanzliche Wirkstoffe, sondern auch therapeutische Anwendungen. Das gilt etwa für Schwitzkuren – früher im Badehaus, heute in der Sauna. Weil sich unter dem Einfluss der äußeren Hitze die Körperkerntemperatur bis auf 38 Grad Celsius erhöht, wird laut Linda Tan eine Art Fieber im Körper ausgelöst, was dazu führt, dass Bakterien und Viren absterben. "Insgesamt werden zusätzlich Abwehrzellen wie Granulozyten, Makrophagen und Lymphozyten aktiviert", erläutert die Medizinerin.
In der Physiotherapie oder von naturheilkundlichen Ärzten wird auch weiterhin erfolgreich geschröpft, vor allem bei schmerzhaft verhärtetem Muskelgewebe. Dazu setzt der Therapeut kleine Gläser mit der Öffnung nach unten auf bestimmte Punkte der Haut. Dort sollen sie mithilfe von Unterdruck – durch Erhitzen oder Absaugen der Luft im Inneren der Gläschen verursacht – die Durchblutung anregen und heilsame Kräfte ausüben. In einigen Fällen hilfreich ist auch noch der Aderlass, bei dem Patienten zwischen 50 und 500 Milliliter Blut entnommen werden. Heutzutage wird die Methode etwa bei der Hämochromatose eingesetzt, einer Erkrankung des Eisenstoffwechsels. Mit dem beim Aderlass entnommenen Blut verliert der Körper das darin enthaltene Eisen, so dass der Eisengehalt im Körper sinkt. "Die Menschen und ihre Erkrankungen haben sich nicht gravierend verändert. Warum sollten gut verträgliche und wirksame Therapien daher an Effekt verloren haben?", fragt Naturheilkunde-Expertin Linda Tan. Sie weiß: "Im pharmakologischen Bereich wurden nach Beobachtungen und tradiertem Wissen in der Neuzeit Einzelwirkstoffe extrahiert. Diese werden synthetisiert, von anderen Substanzen gereinigt und standardisiert etwa als Tabletten oder Tropfen verabreicht." So können die Präparate zielgenauer eingesetzt werden, außerdem hat die Arznei stets die gleiche Qualität.
Manches lässt sich jedoch nicht im Reagenzglas nachvollziehen. Dazu zählt etwa der Blutegelspeichel mit mehr als 100 Substanzen. Der Hauptbestandteil Hirudin ist laut Linda Tan zwar einzeln in Salben erhältlich, zeige in Studien aber nicht den gleichen schmerzlindernden und durchblutungsfördernden Effekt wie in der Gesamtmixtur. Tan: "Wir bleiben daher dabei, bei Arthroseschmerzen Blutegel auf die Haut zu setzen. Wie sagte schon Aristoteles: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile!"
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Natascha Plankermann