Ein Klassiker im Hinblick auf das Pflanzenreich als Quelle von Arneistoffen gilt der Fingerhut. Im 18. Jahrhundert entdeckte William Withering dessen Potenzial als Heilpflanze. Der Arzt hatte davon gehört, dass eine alte Frau im britischen Shropshire mit einer Medizin, die roten FingerhutHerzschwäche und Vorhofflimmern eingesetzt werden. Von Selbstversuchen sollte man aber wegen der Giftigkeit des Fingerhutes unbedingt absehen, nur geprüfte Präparate sind nach ärztlicher Verschreibung anzuwenden.
Ganz ähnlich wie Withering gehen Ethnobotaniker auch heute noch vor. Auf der Suche nach traditionellem Heilwissen wälzen die Pflanzenforscher Medizinbücher vergangener Jahrhunderte oder befragen Menschen vor Ort. Auf diese Weise fand man beispielsweise Curare, ein Pfeilgift aus Südamerika, das die Grundlage für ein wichtiges Anästhesie-Medikament bildete.
Altes Wissen auf neuem Prüfstand
"Es hat eine Phase gegeben, in der man bei traditionell genutzten Pflanzen vor allem auf der Suche nach einzelne Wirkstoffen war", sagt die Ethnobotanikerin Dr. Caroline Weckerle von der Universität Zürich. Für aktuell noch vielversprechender hält die Wissenschaftlerin jedoch den Ansatz der "historischen Ethnobotanik", bei der die Pflanze als Gesamtheit, also das Wirkstoffgemisch, im Vordergrund steht. Welche Beobachtungen haben Menschen in früheren Zeiten gemacht und notiert, auf die wir heute zurückgreifen können?
"Unsere schriftliche Tradition geht zurück bis zu Dioskurides", erklärt die Wissenschaftlerin. Der Grieche lebte im 1. Jahrhundert nach Christus und verfasste mit der "Materia medica" eines der bedeutendsten pharmazeutischen Schriftstück der Antike. Die Wissenschaftler der Universität Zürich haben diese fast 2.000 Jahre alte schriftliche Tradition für die Schweiz einmal genauer betrachtet: "Rund 100 Pflanzen der Schweizer Flora sind im Prinzip durchgehend genutzt worden. Etwa 800 Pflanzen wurden im Verlauf dieser Zeit irgendwann einmal dokumentiert", so Weckerle. Das entspricht etwa einem Drittel der Schweizer Flora – ein gewaltiger Wissensschatz.
Darüber hinaus gebe es die arabische Literatur, die weit zurückreiche. Und nicht zu vergessen sind etablierte Medizinsysteme mit langer Tradition, wie die Traditionelle Chinesische Medizin oder Ayurveda.
Pflanzen statt Antibiotika?
Der Suche nach traditionellen Heilpflanzen, mit denen man der zunehmenden Gefahr von Antibiotikaresistenzen begegnen kann, widmet zum Beispiel die US amerikanische Ethnobotanikerin Cassandra Quave von der Emory University ihre Forschung. Sie arbeitet mit Extrakten von traditionell genutzten Pflanzen, kombiniert sie mit Antibiotika und konnte zumindest im Labor zeigen, dass man so die Antibiotikadosierungen verringern kann und dass sich weniger Resistenzen entwickeln.
Für eine im vergangenen Jahr in der Fachzeitschrift "Frontiers of Medicine" veröffentlichte Studie nahmen Quave und ihr Team in Pakistan neun Pflanzen genauer unter die Lupe, die dort traditionell zur Behandlung von Infektionen und entzündlichen Erkrankungen eingesetzt werden. Im Labor untersuchten sie, wie diese gegen fünf multiresistente Keime wirkten. Fünf davon waren in der Lage, das Wachstum der Keime zu verlangsamen. Auch wenn der Einfluss in diesem Fall nur leicht war, lässt die Studie erahnen, welches Potenzial in diesem Forschungszweig steckt.
Ein klassisches Beispiel für die Suche nach neuen Wirkstoffen ist das Artemisinin, das in dem Einjährigen Beifuß, Artemisia annua, enthalten ist. Die Heilpflanze und ihre Anwendung wurde bereits in der alten chinesischen Medizinliteratur dokumentiert. In den 1970er-Jahren gelang es der chinesischen Wissenschaftlerin Youyou Tu, den Wirkstoff, der heute zur Behandlung von Malaria wichtig ist, zu isolieren. 2015 erhielt die Pharmakologin für ihre Forschung den Nobelpreis. Neuere Forschungsergebnisse zeigen zudem, dass auch der Mexikanische Stachelmohn gegen Malaria hilft. "Wissenschaftler haben beobachtet, dass Menschen in Afrika Pflanzenmischungen, die Stachelmohn enthalten, zur Behandlung von Malaria verwenden und dass diese wirksam sind", berichtet Weckerle. In Zusammenarbeit mit lokalen Krankenhäusern testeten sie daraufhin die Wirksamkeit verschiedener Gemische – mit Erfolg.
Zulassung schwierig
So vielversprechend der ethnobotanische Ansatz auch ist: Daraus neue Arzneimittel zu entwickeln, ist nicht ganz leicht. Regulatorien, die vor dem Einsatz eines neuen Arzneimittels zu beachten sind, schränken die praktische Umsetzung ein. "Die Wissenschaft ist fokussiert auf den einen Wirkstoff, der die Wirksamkeit ausmacht", weiß Weckerle. "Eine Mischung ist aus wissenschaftlicher Perspektive natürlich viel schwieriger greifbar." Zum Beispiel im Hinblick auf die Qualitätskontrolle, den Wirksamkeitsnachweis und für die Aufklärung der Mechanismen, die dahinterstehen. Das Potenzial jedoch ist riesig.
Hanke Huber