27.04.2016
Ab Oktober 2016 werden alle Patienten ein deutlich stärkeres Recht auf Informationen zur sicheren Arzneimitteleinnahme haben. Auf was genau können denn die Patienten von da an pochen, und wer ist zuständig?
Kiefer: Sie können ab 1. Oktober darauf pochen, dass sie eine Liste mit ihren ärztlich verordneten Arzneimitteln und Anwendungshinweisen bekommen. Zunächst passiert das auf Papier.
Weckbecker: Den Plan muss der Arzt machen. Wichtig wäre für uns, dass in der Apotheke auch die Medikamente darauf kommen, die der Patient selbst kauft.
Warum, Herr Professor Weckbecker?
Weckbecker: Weil auch Medikamente, die rezeptfrei zu kaufen sind, Wechselwirkungen auslösen. Auch möchte ich wissen, was mein Patient alles einnimmt. Nur so kann ich Wechselwirkungen rechtzeitig und möglichst vorbeugend erkennen und ausschließen.
Laut Gesetz darf der Apotheker nur auf besonderes Bitten des Patienten auch die Selbstmedikationspräparate eintragen. Das ist sozusagen eine Holschuld des Patienten. Warum glauben Sie ist das so geregelt?
Weckbecker: Ich denke, dass man vielleicht ein bisschen verkannt hat, dass auch rezeptfreie Substanzen Wechselwirkungen haben.
Dass beim sogenannten Medikationsplan zunächst der Arzt dran ist, liegt daran, dass er ja erst mal wie bisher mit dem Patienten in einer gemeinsamen Entscheidung ein Therapiekonzept entwerfen muss. Im Prinzip dokumentiert der Arzt nur das, was er gemeinsam mit dem Patienten entschieden hat.
Kiefer: Ab 2018 soll es die Medikationsliste elektronisch geben. Dann werden auch regelmäßige Einträge durch Apotheken einfacher. Bis dahin nimmt der Apotheker den Kugelschreiber und ergänzt den Plan vom Arzt. Alles andere würde ja auch bedeuten, dass man den Plan noch mal komplett abschreiben müsste. Die Hauptsache ist aber, dass überhaupt die Entwicklung in Gang gesetzt wurde. Das sehe ich positiv.
Die Medikationsliste erhalten nur Patienten, die dauerhaft drei oder mehr Arzneimittel nehmen. Korrekt?
Weckbecker: Ja, aber ich glaube, in Zukunft wird es darauf hinauslaufen, dass jeder, der dauerhaft mehr als ein Medikament nehmen muss, einen solchen Ausweis bekommen wird. Ich glaube, das wird sich in der Praxis nachher schnell etablieren. Weil wir Ärzte das ja durchaus schätzen, wenn jemand zum Beispiel ins Krankenhaus kommt, und der kann uns einen Arzneimittelplan vorlegen. Oder wenn der Arzt gewechselt wird, wenn jemand zum Spezialisten geht oder vom Spezialisten zum Hausarzt zurückkommt – immer bin ich dankbar für einen Arzneimittelplan.
Kiefer: Das kann ich bestätigen. Nehmen wir den praktischen Fall, es kommt ein Patient mit chronischen Schmerzen in die Apotheke. Ich sehe ihm das Krankheitsbild ja zunächst nicht an, wenn er eine Apotheke betritt. Braucht er nun ein Medikament für eine andere Gesundheitsstörung, ist es entscheidend, seine Schmerzmedikamente zu kennen. Mithilfe seiner Medikationsliste kann er exakt Auskunft auf die Frage ›Was nehmen Sie denn sonst noch?‹ geben. Und der Apotheker kann dann viel besser beraten.
Weckbecker: Auch wir haben oft das Problem, dass wir den Patienten fragen: ›Was nehmen Sie für Medikamente?‹ Und dann sagen die: ›Die kleinen weißen Tabletten.‹ Das hilft uns natürlich nicht weiter. Das ist ja doch ein tägliches Problem.
Was wird denn auf der Medikationsliste alles draufstehen?
Weckbecker: Das Medikament, also die Substanz, die Menge, die Einnahmeweise und der Grund für die Einnahme. Wechselwirkungen und Ähnliches stehen in dieser Anfangsphase noch nicht drauf. Trotzdem wird es die Selbstständigkeit des Patienten erhöhen.
Wie ist das mit der Versandapotheke? Wird sie den ärztlichen Plan ergänzen?
Kiefer: Das stelle ich mir in der Praxis schwierig vor. Letztlich ist ja das Ziel, eine strukturierte Zusammenarbeit zwischen den Verordnern und den Apothekern hinzubekommen und den Patienten immer mehr in die Lage zu versetzen, selbstbestimmt zu handeln. Und das geht nun mal am einfachsten vor Ort. Das kann man nicht alles per Telefon oder Telemedizin machen.
Weckbecker: Die Stärke der lokalen Apotheke ist ja die Beratung. Wir raten ja auch zu einer Hausapotheke, das heißt, der Patient geht immer in dieselbe Apotheke, der Apotheker kennt den Patienten, auch die Erkrankungen und auch die Dauermedikation. Das ist die Stärke der Vor-Ort-Apotheke.
Was müsste der Aufwand kosten, wenn man ihn betriebswirtschaftlich kostendeckend rechnen würde?
Kiefer: Es fallen ja Kosten für Räume, für die Mitarbeiter etc. an. Wie viel Zeit man pro Patient braucht, wird sicher unterschiedlich sein, aber berechnet auf eine
Betriebsstunde würde ich sagen: etwa 125 Euro. Das ist bei Apotheke und Arzt sicher ähnlich.
Weckbecker: Eher noch ein bisschen höher.
Diesen Aufwand wollen Sie natürlich auch bezahlt haben …
Kiefer: Wenn die Gesellschaft diese Leistung als richtig erkannt hat und der Versicherte sie erhält, dann müssen die Kosten übernommen werden wie für andere Gesundheitsleistungen auch. Ganz wichtig finde ich, hier außerhalb von Budgets zu denken, also nicht woanders dafür sparen zu wollen.
Weckbecker: Grundsätzlich würde auch ich sagen, dass jede Leistung natürlich in irgendeiner Weise honoriert werden muss, wie das überall ist. Und wir reden hier von einer absolut sinnvollen Leistung, die die Sicherheit erhöht, die die Gesundheit verbessert, und deshalb sollte sie auch etwas wert sein.
Für beide Berufszweige?
Weckbecker: Absolut, für beide Berufszweige.
Die Wichtigkeit der Eintragungen vom Apotheker wird von Politikern und Marktbeteiligten ganz unterschiedlich gesehen. Warum?
Weckbecker: Ich denke, es liegt immer an den unterschiedlichen Interessenslagen. In der Praxis glaube ich, dass das eine Kooperation auf Augenhöhe zwischen Arzt und Apotheker ist. Wir haben mit den Apothekern ausgebildete Pharmazeuten, die einen hohen Ausbildungsgrad haben, und ich verstehe gar nicht, warum man das nicht nutzen soll. Mir als Arzt ist es ja eigentlich nur recht, wenn ich eine Verordnung mache und jemand anderes, mit einem etwas anderen Ausbildungsschwerpunkt, da mit draufguckt und sich so auch seine Gedanken macht.
Kiefer: Da geht es auch um das Missverständnis, dass der Arzt die Hoheit über die Therapie einbüßen könnte. Aber diese Gefahr besteht nicht. Es geht darum, dass nur Apotheker und Arzt zusammen den Patienten optimal betreuen können.
Wie wollen Sie und Ihre Apothekerkollegen die viele zusätzliche Arbeit in der Apotheke schaffen, Herr Dr. Kiefer?
Kiefer: Fachlich sind wir dafür gerüstet. Man muss es wollen. Medikationsmanagement erhöht die Attraktivität unseres Berufes, auch für die nachfolgende Generation. Und wenn Politik und Bevölkerung sehen, wie sinnvoll dieses Management ist, werden das auch die Kostenträger anerkennen und letztlich bezahlen.
Herr Professor Weckbecker, Sie haben einen relativ jungen Lehrstuhl für Hausarztmedizin. Was sagen Sie denn den jungen Leuten, die Sie ausbilden, zur Zusammenarbeit von Arzt und Apotheker?
Weckbecker: Ich glaube, dass wir eine Generation von Hausärzten ausbilden und auch bekommen, die fasziniert davon ist, mit dem Patienten eng zusammenzuarbeiten, mit den anderen Professionen zusammenzuarbeiten, mit den Apothekern, den Krankengymnasten, mit den anderen Spezialisten. Diese Teamarbeit spielt eine ganz große Rolle auch bei der Zufriedenheit im Beruf. Zusammenarbeiten auf wissenschaftlichem Niveau, unabhängig von der Industrie.
Und ohne die traditionelle Distanz zwischen Arzt und Apotheker?
Weckbecker: Welche Distanz? Die gibt es, glaube ich, nicht. Früher haben Hausarzt und Apotheker sehr eng zusammengearbeitet, weil sie oft in dem jeweiligen Ort die Versorger waren. Mag sein, dass es in den Großstädten oder durch die Versandapotheken eine Anonymität gibt, aber keine Distanz der beiden Heilberufe.
Kiefer: Das kann ich nur unterstreichen. Man darf da keinen künstlichen Konflikt erzeugen. Ohnehin gibt es mehr Arbeit als Arbeiter, egal ob man das aus Apothekersicht oder aus ärztlicher Sicht sieht. Und deswegen ist jedes Zusammenrücken gut.
Kein Konkurrenzdenken?
Weckbecker: Nein, wir haben auch ganz unterschiedliche Honorierungssysteme. Für einen Apotheker, der gut berät, zum Beispiel auch von zu viel Medikamenten abrät, würde ich mir wünschen, dass er das auch honoriert bekommt.
Wo sehen Sie denn weiteres Potential zur Zusammenarbeit? Herr Dr. Kiefer: welche Daten aus der ärztlichen Praxis bräuchten Sie denn um wirklich sinnvoll in der Selbstmedikation beraten zu können?
Kiefer: Je mehr Information ich habe, desto besser kann ich beraten.
Herr Professor Weckbecker: Würden Sie der Apotheke Diagnoseergebnisse wie Blutbild oder ähnliches geben, wenn das sinnvoll ist?
Weckbecker: Ja, geben in jedem Fall. Es ist ja Fakt, dass die Patienten mit Beschwerden zum Apotheker gehen, und dort bestimmte Präparate einfordern. Zum Beispiel Eisenpräparate. Am Medikationsplan sieht der Apotheker in Zukunft schon leichter, ob der Patient das Eisenpräparat verträgt. Und wenn wir zu einer evidenzbasierten Beratung kommen wollen, dann wäre sinnvoll, dass der Apotheker sagt: "Moment, bevor ich Ihnen jetzt das Eisenpräparat empfehle: Wie sind denn die Hintergründe?" Und den Patienten unter Umständen wieder zum Arzt zurückschickt.
Kiefer: Andererseits kann ich in der Apotheke mit mehr Informationen und einem ausführlicheren Gespräch über die Medikamente auch eher erkennen, wann ich den Patienten wieder zum Arzt schicke für zusätzliche Untersuchungen. Diese Rückkopplung muss zunehmen. Am besten standardisiert über Kommunikationsplattformen.
Weckbecker: Dass wir uns neue Kommunikationswege in Zukunft vorstellen können, ist klar. Aber ich glaube, die sind einfach noch nicht so weit ausgereift. Das wird noch kommen. Die müssen dann auch entsprechend abgesichert sein. Im Moment sehe ich, dass wir mit dem Medikationsplan den Fluss von Informationen verbessern. Damit versetzen wir den Apotheker in die Lage, besser zu beraten, und uns auf Probleme hinzuweisen, was der Beginn einer Kommunikation ist. Und wie sich das dann in zwanzig Jahren darstellt mit welchen Kommunikationswegen, das müssen wir abwarten.
Kiefer: Ich bin überzeugt, dass das gar nicht so lange dauern wird. Wenn klar ist, dass es überhaupt nicht um die Kontrolle der Entscheidung des jeweils anderen Heilberufs geht, sondern um Transparenz und die bestmögliche Versorgung der Patienten, dann kann das schnell gehen.
Weckbecker: Tatsächlich gibt es diese Transparenz in vielen Ländern der Welt ja schon. Dass das alles jetzt erst kommt in Deutschland liegt auch daran, dass wir in Deutschland traditionell keine besonders starke Versorgungsforschung hatten. Und dass andere Länder sich früher darum gekümmert hatten, wie sieht das denn in der Versorgungsrealität aus. Und dadurch haben andere Länder früher da auch entsprechende Strukturen und Kommunikationswege aufgebaut.
Bei uns ist die Versorgungsforschung in den letzten Jahren gestärkt worden und das hat dann solche konkreten Gesetzesänderungen letztendlich zur Folge.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Chefredakteurin Jutta Petersen-Lehmann.