22.10.2015
Hinter dem Steuer mutiert ein biederer Büroangestellter zum Raser, ein gemütlicher Familienvater wird zum wilden Drängler. Das Auto verändert Menschen – nicht nur ihre Eigenschaften, sondern auch ihre Wahrnehmung. Psychologen haben herausgefunden, dass Autofahrer Entfernungen falsch einschätzen – und zwar um mehr als 40 Prozent zu kurz.
Für die Studie sollten Autofahrer und Fußgänger Entfernungen von vier bis 20 Meter schätzen. Während Fußgänger die Distanzen durchschnittlich um knapp 24 Prozent unterschätzten, verfehlten Autofahrer die richtigen Werte um etwas mehr als 40 Prozent. So wurden aus 20 Metern am Lenkrad gefühlte zwölf Meter. Nach einer zehnminütigen Fahrzeit schätzte die Auto-Testgruppe Entfernungen sogar noch kürzer ein als zuvor. Dagegen hatte ein zehnminütiger Rundgang bei Fußgängern keine Auswirkung auf die Distanz-Wahrnehmung. Das im Fahrzeug eingeschränkte Sichtfeld ist für diesen Effekt nicht verantwortlich: Diese Annahme schlossen die Wissenschaftler durch eine Fußgänger-Kontrollgruppe aus, die durch eine Cockpit-ähnliche Holzkonstruktion auf das Distanz-Messfeld blickte. Das berichtet Studienleiterin Dr. Birte Moeller von der Universität Trier in der Fachzeitschrift Psychonomic Bulletin & Review.
Die generelle Fehleinschätzung könnte auf der Straße die positive Folge haben, dass der Abstand beim dichten Auffahren tatsächlich größer ist als der Fahrer annimmt. Sie erhöht andererseits aber auch das Risiko, die Distanz zu einer gelben Ampel zu unterschätzen und deshalb bei Rot auf die Kreuzung zu fahren. Eine weitere Gefahr droht, wenn die Strecke für das Überholen eines längeren Lastwagens falsch eingestuft wird. Welche Auswirkungen diese Ergebnisse auf den Verkehr haben und ob die Fehleinschätzungen beispielsweise durch Fahrassistenzsysteme entschärft werden können, damit beschäftigt sich aktuell der Forschungsverbund Verkehrstechnik und Verkehrssicherheit.
NK