Experten-Interview: Nicht mit Inkontinenz abfinden

Probleme mit ungewollten Urinverlusten sind unerfreulich und vielen Betroffenen sehr peinlich. Dass sie gar nicht so selten sind, worin die Ursachen liegen und was man dagegen tun kann, erläutert Dr. Ruth Kirschner-Hermanns, Leiterin des Kontinenzzentrums am Universitätsklinikum Aachen.

Ältere Frau, schaut nachdenklich aus dem Fenster.
Blasenschwäche kann für Betroffene im Alltag sehr belastend sein.
© mheim3011/iStockphoto

Frau Dr. Kirschner-Hermanns, viele Menschen, die aus Versehen Urin verlieren, schämen sich. Doch sind nicht sehr viele betroffen?

Kirschner-Hermanns:

Die Deutsche Kontinenzgesellschaft geht davon aus, dass in Deutschland sechs bis acht Millionen Menschen betroffen sind – also ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung. Es sind Kinder, die noch nach Eintritt in das Schulalter nachts ins Bett machen, Frauen, die beim Husten und Lachen oder bei sportlicher Betätigung Urin verlieren, Männer, die wegen eines Prostatakrebses an der Prostata operiert oder bestrahlt wurden, oder ältere Menschen, die häufig über einen überfallartigen Harndrang und Urinverlust vor dem Erreichen der Toilette klagen.

Sie haben in Fachartikeln gefordert, besonders ältere Menschen besser zu untersuchen. Wie meinen Sie das?

Kirschner-Hermanns:

Inkontinenz ist im Alter häufiger, aber auch im Alter ist es nicht normal, inkontinent zu sein. Und wie bei vielen Krankheiten, ist bei Inkontinenz eine frühe Diagnostik und eine konsequente Therapie die beste Vorraussetzung dafür, auch im Alter die Kontrolle über die Blasenfunktion zu erhalten.

Was würde man herausfinden, wenn man ältere Menschen gründlicher untersuchen würde?

Kirschner-Hermanns:

Auch wenn die sogenannte überaktive Blase – auch Reizblase genannt – im Alter die häufigste Ursache einer Harninkontinenz ist, so sind es im Alter durch nachlassende Kompensationsmechanismen oft mehrere Ursachen, die zur Inkontinenz führen. Das kann sowohl eine Senkung der Blase oder Gebärmutter sein, eine trockene Scheide, eine Neigung zu Verstopfung oder zahlreiche Medikamente, die die Blasenfunktion beeinflussen. Und auch seltene Gründe einer Harninkontinenz wie eine chronische Entzündung, Blasensteine oder sogar Blasenkrebs sollten vor einer Therapie ausgeschlossen werden.

Welche weiteren Ursachen kann die Inkontinenz haben?

Kirschner-Hermanns:

Verschiedene Ursachen wurden schon angesprochen, doch es kann auch an der Steuerung der Blase durch die versorgenden Nerven liegen. Dies ist besonders häufig bei Patienten mit einem Diabetes mellitus, nach Schlaganfall, bei Morbus Parkinson oder bei Patienten mit Multipler Sklerose der Fall. Bei etwa 10 bis 20 Prozent der Betroffenen liegt die Ursache einer Harninkontinenz aber nicht in einer sogenannten überaktiven Blase, sondern in einer nicht vollständigen Blasenentleerung. Dies kann durch eine Blockade der Harnröhre oder auch durch eine schwache Blasenmuskulatur, eine Detrusorschwäche, bedingt sein.

Bei einer Blockade der Harnröhre kann diese zumeist operiert werden. Falls die Ursache durch eine Schwäche der Blasenmuskulatur bedingt ist, helfen manchmal Medikamente, Elektrostimulations- oder Neuromodulationsbehandlungen. Falls diese Maßnahmen nicht helfen, wird das Erlernen eines sauberen Einsatzes von Einmalkathetern empfohlen. Wenn dies von älteren Menschen oder ihren Angehörigen nicht durchgeführt werden kann, helfen ambulante Pflegedienste weiter.

Könnte man, wenn man besonders ältere Menschen gründlicher untersuchen würde, die Inkontinenz besser behandeln?

Kirschner-Hermanns:

Ja selbstverständlich. Gerade im Alter führen oft verschiedene Ursachen zu einer Harninkontinenz. Es lohnt sich, frühzeitig einen Arzt und besser noch ein Ärzteteam mit Fachärzten aus verschiedenen Disziplinen zurate zu ziehen, zum Beispiel Urologen, Gynäkologen, Chirurgen, Neurologen, Internisten und Pädiater, wie dies in den Kontinenzzentren der Deutschen Kontinenzgesellschaft möglich ist.

Wie würden Sie demnach inkontinente Menschen behandeln?

Kirschner-Hermanns:

Wer beim Niesen, Lachen oder Husten unkontrolliert Urin verliert, leidet am ehesten unter einer Belastungsinkontinenz. Diese entsteht bei Frauen oft durch eine Senkung der Geschlechtsorgane und der Blase. Männer leiden unter dieser Form der Inkontinenz häufig nach radikaler Prostataentfernung bei Prostatakrebs. Neben einem Beckenbodentraining gibt es heute auch für Männer neben der Einpflanzung eines künstlichen Schließmuskels verschiedene, zum Teil wenig invasive Operationsmethoden.

Bei Patienten mit einer überaktiven Blase gibt es Trainingsmöglichkeiten, Medikamente, Magnet- oder Elektrostimulation und in seltenen Fällen auch operative Möglichkeiten. Noch in der Zulassung befindet sich die Therapie mit Botulinumtoxin A, die für viele Patienten eine wirkliche Hilfe zu sein scheint. Eines ist jedoch ganz wichtig: Inkontinenz ist kein Schicksal, mit dem man sich abfinden muss.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Chefredakteurin Jutta Petersen-Lehmann.

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