29.05.2017
Lesen ist evolutionär gesehen eine derart junge Fähigkeit, dass im Gehirn noch kein eigener Platz für sie vorgesehen ist. Während wir Lesen lernen, werden daher Hirnregionen umfunktioniert, die bis dahin für andere Fähigkeiten genutzt wurden. Wissenschaftler der Max-Planck-Institute in Nijmegen und Leipzig haben herausgefunden, dass sich das Gehirn dabei so grundlegend verändert, dass sich selbst evolutionär sehr alte, tiefverborgene Strukturen an die neue Herausforderung anpassen. Zu diesen Erkenntnissen gelangte das Team anhand einer großangelegten Studie in Indien, in der Analphabetinnen sechs Monate lang lesen und schreiben lernten.
Beim Lesen lernen werden Hirnareale, die eigentlich von der Evolution für die Erkennung komplexer Objekte wie Gesichtern konzipiert waren, durch die Fähigkeit besetzt, Buchstaben in Sprache zu übertragen. „Bisher ging man davon aus, dass sich diese Veränderungen lediglich auf die äußere Großhirnrinde beschränken, die bereits dafür bekannt war, sich schnell an neue Herausforderungen anpassen zu können“, so Studienleiter Falk Huettig vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik. Anders als bisher angenommen werden durch den Prozess des Lesenlernens jedoch Umstrukturierungen im Gehirn in Gang gesetzt, die bis in den Thalamus und den Hirnstamm hineinreichen. Im Vergleich zur verhältnismäßig sehr jungen Schrift des Menschen verändern sich also Regionen, die evolutionär gesehen recht alt sind - und selbst bei Mäusen und anderen Säugetieren bereits vorhanden sind.
Untersucht hat das Forscherteam diese Zusammenhänge in Indien, einem Land mit einer Analphabetenrate von etwa 39 Prozent. Hier sind es vor allem die Frauen, denen der Zugang zu Schulbildung und damit zum Lesen und Schreiben verwehrt bleibt, sodass an der Studie ausschließlich Frauen teilnahmen, alle im Alter zwischen 24 und 40 Jahren. Ein Großteil der Teilnehmerinnen konnte zu Beginn des Trainings kein einziges Wort ihrer Sprache, dem Hindi, entziffern. Nach sechs Monaten Unterrichts erreichten die Teilnehmerinnen bereits ein Niveau, das sich mit dem von Erstklässlerinnen vergleichen lässt. „Dieser Wissenszuwachs ist bemerkenswert“, so Huettig. „Obwohl es für uns als Erwachsene sehr schwierig ist, eine neue Sprache zu lernen, scheint für das Lesen anderes zu gelten. Das erwachsene Gehirn stellt hier seine Formbarkeit eindrucksvoll unter Beweis.“
NK