Frau Dr. Reger-Tan, wie gehen Sie vor, wenn ein Patient ganz neu zu Ihnen in die Klinik kommt?
Reger-Tan: Die Dunkelziffer bei Diabetes ist sehr hoch. Etwa jeder zweite Betroffene weiß nicht, dass bei ihm ein Diabetes vorliegt. Der wichtigste Schritt war daher schon die Diagnosestellung durch den Hausarzt. Wir Ärzte, aber auch die Patienten sollten bei Auftreten von großem Durst, häufigem Wasserlassen oder Müdigkeit darüber nachdenken, ob diesen Beschwerden ein Diabetes als Auslöser zu Grunde liegen kann, und eine entsprechende Diagnostik einleiten. Ein Zuckerbelastungstest und das Messen des HbA1c-Wertes können dann entscheidende Hinweise geben. Liegt tatsächlich ein Diabetes vor, klären wir die Patienten grundlegend über die Erkrankung auf. Zusätzlich werden sie geschult, wie sie ihre Ernährung optimieren und ihre körperliche Aktivität durch Sport oder einen aktiveren Alltag steigern können. Meist besprechen wir bereits recht früh den Einsatz von Medikamenten.
Kann man den Zucker schon durch einen veränderten Lebensstil in den Griff bekommen?
Reger-Tan: Prinzipiell ist es sehr effektiv, wenn man den Lebensstil verbessert. In der Realität ist das jedoch nur mühsam umzusetzen. Viele Patienten haben schon diverse Abnehmstrategien ohne große oder langfristige Erfolge hinter sich. Es fällt tendenziell leichter, die Ernährung kurzfristig radikal zu verändern. Das ist jedoch medizinisch wenig sinnvoll. Uns kommt es auf langfristige Maßnahmen an – genauso bei der Bewegung. Aber wer übergewichtig ist oder Gelenkprobleme hat, dem fallen diese oft schwer. Manchmal hilft es den Patienten, mit den Medikamenten frühzeitig einzusetzen, um dadurch eine Gewichtsreduktion anzustoßen und den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen.
Mit welchen Medikamenten beginnen Sie üblicherweise?
Reger-Tan: Bei der Tablettentherapie achten wir darauf, dass das Präparat langfristig möglichst gut vertragen wird, dass kein Unterzuckerungsrisiko besteht und dass es das Gewicht nicht erhöht. Daher setzen wir am Anfang gerne Metformin ein. Der Wirkstoff verringert das Herzinfarktrisiko und wirkt sich positiv auf das Überleben aus. Zugleich gibt es damit keine Unterzuckerungen, und der Patient verliert Gewicht. Weil Metformin zu Beginn Magen-Darm-Beschwerden verursachen kann, dosieren wir das Medikament einschleichend – also erst eine kleinere Menge, die wir dann nach und nach bis zur gewünschten Dosis erhöhen. Metformin soll man nicht mehr anwenden, wenn die Nieren des Patienten nur noch eingeschränkt arbeiten.
Was verschreiben Sie stattdessen oder wenn der Patient es von Anfang an nicht verträgt?
Reger-Tan: Früher wurden als nächstes häufig Sulfonylharnstoffe eingesetzt, die aber eine Gewichtszunahme verursachen können und ein Risiko für Unterzuckerungen mit sich bringen. Aktuell kommen eher Inkretinmimetika, wie Liraglutid oder Albiglutid, oder SGLT-2-Hemmer zum Einsatz, beispielsweise Dapagliflozin oder Empagliflozin. Sie haben positive Langzeitdaten bezüglich der Sterblichkeit des Patienten, senken das Gewicht und den Blutdruck. Gewichtsneutral sind die sogenannten DDP-4-Inhibitoren. Zu dieser Gruppe zählen Wirkstoffe wie Sitagliptin oder Vildagliptin, die die Wirkung von körpereigenen Inkretinen verstärken. Inkretinmimetika führen dazu, dass das körpereigene Insulin besser wirkt und der Magen langsamer entleert wird. Sie machen auch schneller satt, weil Inkretine den Appetit zentral im Gehirn drosseln. Das führt zu einer besseren Blutzuckereinstellung und Gewichtsreduktion. Die Präparate werden ähnlich wie Insulin vom Patienten ins Unterhautfettgewebe am Bauch gespritzt.
Kostet das nicht Überwindung?
Reger-Tan: Ja, anfangs stellt das Spritzen für viele eine Hürde dar, aber es gibt Vorteile. Die Patienten haben oft schon jahrelang Tabletten eingenommen, die ihnen nun nicht mehr ausreichen oder die sie nicht mehr vertragen. Viele sind resigniert, was ihren Gewichtsverlauf angeht. Sie haben größte Mühe, das Gewicht zu halten oder gar abzunehmen. Aber die Aussicht, mit Inkretinen an Gewicht zu verlieren, durchschnittlich 5 bis 6 Prozent, motiviert sie dann doch, diese Therapie zu wählen.
Auch Insulin wird gespritzt. Was ist bei der Insulintherapie zusätzlich zu beachten?
Reger-Tan: Beim Insulin kommt dazu, dass die Patienten ihren Blutzucker kontrollieren müssen, dass ein höheres Unterzuckerungsrisiko besteht, dass sie zunehmen können und in bestimmten Situationen nicht Auto fahren dürfen. Viele Patienten haben das Gefühl, sie leiden nun unter einer schweren Form von Diabetes. Aber wenn nach maximaler Therapie mit Medikamenten der Blutzucker nicht gut eingestellt ist, wenn die Bauchspeicheldrüse nicht mehr genug Insulin produziert oder die Nierenfunktion zu schlecht für andere Medikamente ist, führt kein Weg mehr am Insulin vorbei. Meist geben wir zu Beginn erst basales Insulin parallel zu Medikamenten.
Ist auch eine Kombinationstherapie mit verschiedenen Medikamenten möglich, bevor man auf Insulin umsteigt?
Reger-Tan: Solange es die Nierenfunktion zulässt und die Bauchspeicheldrüse des Patienten noch Insulin produziert, kann man versuchen, zwei oder drei verschiedene Diabetesmedikamente zu kombinieren. Metformin kann man gut zusammen mit Inkretinmimetika, DDP-4-Inhibitoren oder SGLT-2-Inhibitoren geben. Inkretinmimetika sind darüber hinaus zur Therapie mit Insulin zugelassen. Zudem setzen wir sie ein, um zu prüfen, ob Patienten, die bereits Insulin spritzen, wieder zu einer Therapie ohne Insulin oder nur mit basalem Insulin zusätzlich zu Medikamenten zurückkehren können.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Apotheker Rüdiger Freund.