Seit vier Jahren ist Fettleibigkeit (Adipositas) in Deutschland offiziell als Krankheit anerkannt. Was bedeutet das für Betroffene?
Prof. Dagmar Führer-Sakel: Die Anerkennung als Krankheit ist ein wichtiger Schritt für die Betroffenen. Das trägt zur De-Stigmatisierung bei und macht den Weg frei für eine Therapie. Fast ein Fünftel der Erwachsenen in Deutschland hat einen Body-Mass-Index (BMI) größer als 30 und ist somit adipös. Entgegen der weiterhin langläufigen Meinung reichen Disziplin, Diät und Bewegung oft eben nicht mehr aus, um das Körpergewicht auf ein gesundes Maß zu reduzieren. Hinzukommen die angesprochenen Folgeerkrankungen. Insofern ist der Wandel von einer Art als „kosmetisch störend“ empfundenen Körpers zu einer chronischen Erkrankung umso wichtiger.
Viele Betroffene schaffen es nicht, ihr Gewicht durch eine Ernährungsumstellung und mehr Bewegung zu reduzieren und setzen große Hoffnungen in die „Abnehmspritze“. Für wen kommt diese Therapie infrage?
Prof. Dagmar Führer-Sakel: Ursprünglich wurden die sogenannten GLP-1-Rezeptor-Agonisten für die Therapie des Typs 2-Diabetes mellitus entwickelt. Studien haben jedoch rasch gezeigt, dass sie neben dem günstigen Effekt auf die Regulation des Blutzuckers auch zu der erwünschten Gewichtsreduktion führen und dies mit Veränderungen in Appetit und Sättigungswahrnehmung einhergeht. Zur Behandlung von Adipositas kommen die Medikamente nach den Empfehlungen des europäischen Adipositas-Verbandes ab einem BMI größer 30 infrage. Bei mindestens einer gewichtsbedingten Begleiterkrankung oder anderen Komplikationen wird eine Therapie auch ab einem BMI von 27 empfohlen. Grundvoraussetzung bleibt aber weiter die Lebensstil-Änderung mit Umstellung der Ernährung, mehr körperlicher Aktivität, Stressabbau und Verbesserung der Schlafgewohnheiten. Unabhängig davon übernehmen gesetzliche Krankenkassen in der Regel allerdings nicht die Kosten. Das wird aktuell stark diskutiert.
Welchen Effekt dürfen sich Betroffene von der Abnehmspritze erhoffen? Sind sie langfristig eine echte Alternative zu Operationen wie einer Magenverkleinerung?
Prof. Dagmar Führer-Sakel: Wir werten diese Therapien als echte Gamechanger. Denn Studien zeigen, dass damit tatsächlich bei akzeptablen Nebenwirkungen eine Reduktion des Körpergewichts erzielt werden kann, wie wir sie bisher nur von bariatrischen Operationen wie einer Magenverkleinerung kannten. Der Effekt auch hinsichtlich der Folgeerkrankungen wie Diabetes, Herz- und Niereninsuffizienz, Fettleber, Schlafapnoe und inzwischen sogar auch neuropsychiatrischen Krankheitsbildern ist frappierend. So etwas haben wir in der Medizin lange nicht gesehen. Aber wir müssen auch wahrnehmen, dass die medikamentöse Adipositastherapie vermutlich dauerhaft erfolgen muss. Das heißt: Werden die Spritzen abgesetzt, nimmt man auch wieder zu. Ob und wie dies möglicherweise vermieden werden kann, wie die verfügbaren Therapien sich weiterentwickeln, optimal und auch kosteneffektiv eingesetzt werden können, dafür müssen noch Konzepte entwickelt werden.
Längere Zeit gab es Lieferschwierigkeiten für entsprechende Medikamente. Hat sich die Lage entspannt?
Prof. Dagmar Führer-Sakel: Die Lage ist entspannter als noch zu Beginn des Jahres. Aber wir appellieren weiter, dass die Medikamente wirklich Betroffenen vorbehalten bleiben sollten, die darauf angewiesen sind. Sie sollten nicht als sogenannte Life-Style-Medikamente zum Abnehmen genutzt und nur unter ärztlicher Aufsicht sowie mit gültigem Rezept angewendet werden.