Schließt sich beim wachsenden Embryo das Neuralrohr, aus dem Hirn und Rückenmark entstehen, nicht vollständig, können im Extremfall große Teile des Gehirns fehlen. Die betroffenen Kinder sterben vor oder kurz nach der Geburt. Kommt es zu der als Spina bifida oder offener Rücken bezeichneten Spaltbildung der Wirbelsäule, haben die Kinder bessere Überlebenschancen, müssen zum Teil aber mit schweren Behinderungen leben. Zwar operieren Chirurgen diese Kinder direkt nach der Geburt, dennoch treten je nach Lage und Ausmaß des Defektes Lähmungen oder Probleme beim Entleeren des Darms und der Blase auf. Außerdem droht eine Gehirndrucksteigerung, die unbehandelt Hirnschäden und damit weitere Behinderungen verursachen kann.
Die Häufigkeit des offenen Rückens liegt bei etwa sechs bis zehn Fällen pro 10000 Schwangerschaften. Heilen lässt sich der offene Rücken nicht. Vorbeugen kann man aber, und zwar mit Folsäurepräparaten. Nach Angaben der Stiftung Kindergesundheit in München lässt sich dadurch das Risiko des offenen Rückens um bis zu 75 Prozent senken. Und auch die Gefahr von anderen Fehlbildungen wie Herzfehlern oder Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten soll sich durch eine ausreichende Zufuhr von Folsäure verringern lassen, berichtet die Stiftung.
Drei Viertel aller Erwachsenen unterversorgt
Die Zufuhr über Lebensmittel reicht dafür bei den hiesigen Ernährungsgewohnheiten allein nicht aus. Studien zeigen, dass etwa drei Viertel der erwachsenen Deutschen die Mindestzufuhr an natürlich vorkommenden Folsäureformen, die man als Nahrungsfolat bezeichnet, nicht schaffen. Und so empfehlen zahlreiche medizinische Fachverbände Frauen mit Kinderwunsch, spätestens vier Wochen vor einer gewünschten Empfängnis zusätzlich zu Nahrungsfolat täglich noch 400 Mikrogramm reine Folsäure über Präparate aus der Apotheke einzunehmen, und zwar bis zum Ende des ersten Schwangerschaftsdrittels. Neuere Studien deuten darauf hin, dass sogar 800 Mikrogramm sinnvoll sein können.
Damit erst anzufangen, wenn die Schwangerschaft feststeht, genügt nicht, denn Neuralrohrschäden treten schon zwischen dem 20. und 28. Tag nach der Empfängnis auf. Bis dahin wissen die betroffenen Frauen oft noch nichts von ihrer Schwangerschaft – vor allem, wenn sie ungeplant war. Eine klare Strategie, um auch in solchen Fällen vorzusorgen, fehlt bisher noch. Experten diskutieren, ob alle Frauen im gebärfähigen Alter Folsäurepräparate einnehmen sollten oder ob es sinnvoll wäre, bestimmte Grundnahrungsmittel wie etwa Mehl mit Folsäure anzureichern.
Frauen, die bereits Kinder mit einem offenen Rücken geboren oder die wegen dieser Fehlbildung schon einmal eine Schwangerschaft abgebrochen haben, sollten nach Expertenmeinung bei einem erneuten Kinderwunsch vier Milligramm Folsäure pro Tag einnehmen.
Lücken in der Vorsorge
Folsäurepräparate bieten bei geringem Aufwand einen großen Gewinn an Sicherheit für die Kindesentwicklung. Dennoch bestehen bei der Folsäurevorsorge vor und während der Schwangerschaft hier zu Lande erhebliche Lücken. Dies zeigt beispielhaft eine Studie der Universität Greifswald bei 895 schwangeren Frauen in Ostvorpommern: Nur neun bis elf Prozent nahmen rechtzeitig ausreichend Folsäure auf. Der Studienleiter Professor Dr. Christoph Fusch sieht daher in Sachen Folsäureprophylaxe erheblichen Aufklärungsbedarf, vor allem an Schulen und in den Medien.
Dr. Frank Schäfer