11.09.2018
Klagen Kinder über schlechtes Sehvermögen, ist die erste Anlaufstelle der Augenarzt. Mitunter zeigt sich dann: Es liegt nicht am Auge und es gibt auch keine Fehlsichtigkeit, gegen die eine Brille helfen würde. „Nun gleich an schwere Erkrankungen wie Hirntumor oder Multiple Sklerose zu denken und aufwändige Diagnostik etwa in Form von Kernspintomografie oder Rückenmarkspunktion zu bemühen, wäre der falsche Weg“, sagt Professor Dr. med. Helmut Wilhelm, Neuro-Ophthalmologe der Universitäts-Augenklinik Tübingen.
Vielmehr solle der Augenarzt zunächst versuchen, aktiv zu beweisen, dass die Sehfunktion eigentlich intakt ist. „Einem erfahrenen Augenarzt wird es sehr schnell auffallen, wenn Angaben gemacht werden, die so nicht zutreffen können, erläutert der Experte. Durch verschiedene Untersuchungsstrategien könne ein Spezialist Situationen schaffen, in denen erkennbar wird, dass subjektive Aussagen zu Sehschärfe oder zum Gesichtsfeld nicht mit objektiven Befunden übereinstimmen.
Ist schließlich erwiesen, dass ein Kind falsche Angaben zu seinem Sehvermögen macht, stellt sich die Frage, warum es dies tut. „In den seltensten Fällen wird es sich um eine bewusste Täuschung handeln“, sagt Wilhelm, der fast jede Woche einen solchen Patienten in der Klinik sieht. In der Regel leide das Kind unter einem inneren Konflikt, für den es keine Lösung wisse. „Es handelt sich gewissermaßen um einen Hilferuf der Seele, der unsere Reaktion erfordert, gemeinsam mit Kinderärzten und Kinderpsychiatern“, sagt Wilhelm.
Die häufigsten Ursachen seien Konflikte innerhalb der Familie und Probleme in der Schule. In einigen Fällen wird auch ein vorangegangenes Schädel-Hirntrauma angegeben, das aber nicht Ursache, sondern allenfalls Auslöser sein kann. Oftmals bleiben die Gründe ungeklärt. Grund zu der Besorgnis, dass dieser Zustand dauerhaft anhält, besteht in der Regel nicht: In etwa 90 Prozent der Fälle verschwinden die Beschwerden entweder relativ rasch von selbst oder nach einer kurzen Placebo-Therapie beispielsweise mittels einer schwachen, an sich nicht notwendigen Brille oder wirkstofffreien Augentropfen. Erfahrungsgemäß sei eine solche Sehstörung zudem kein Zeichen für eine spätere psychiatrische oder psychosomatische Erkrankung.
DGO/NK