Herr Dr. Thill, warum kann man Brustkrebs nicht immer gleich behandeln?
Thill: Durch den wissenschaftlichen Fortschritt der letzten zehn Jahre können wir den Brustkrebs mittlerweile in mindestens vier große Untergruppen einteilen, die hinsichtlich Risiko und Therapie unterschiedlich zu bewerten sind. Sie sind somit auch nicht oder nur sehr wenig zu vergleichen. Insgesamt wird seit mehr als 40 Jahren versucht, den Brustkrebs in verschiedene Risikogruppen zu unterteilen, um die Therapie auf die jeweilige Patientin abstimmen und damit optimieren zu können.
Ist eine Tumor-Feinanalyse für jede Brustkrebspatientin möglich?
Thill: Es ist nicht nur möglich, sondern längst Standard, das Tumorgewebe auf verschiedene Faktoren zu überprüfen. Deswegen wird eine entsprechende Untersuchung auch in deutschen Leitlinien empfohlen. Jede Tumorprobe, die bei einem unklaren Knoten aus der Brust entnommen wird, wird zur Diagnostik in ein pathologisches Institut geschickt. Dort wird nicht nur zwischen "gut" und "böse" unterschieden, sondern auch eine Feindiagnostik durchgeführt. Diese schließt den Nachweis von Rezeptoren – die sogenannte Rezeptordiagnostik – ein. Rezeptoren sind Strukturen an der Tumorzelloberfläche, die wachstumsanregend sein können, wenn bestimmte Botenstoffe an diesen "Ankerstellen" andocken. Daher sprechen wir auch von Hormon-Rezeptoren, wenn diese für weibliche Geschlechtshormone empfänglich sind.
Außerdem testet der Pathologe verschiedene Faktoren, um die Aggressivität des Tumors einschätzen zu können. Zudem ist mittlerweile die genetische Untersuchung des Tumorgewebes mit sogenannten Genexpressionstests möglich. Das Ziel dieser Tests ist die genauere Einteilung in die uns bekannten Untergruppen und die bessere Ermittlung des persönlichen Rückfallrisikos der Patientin. Diese Tests werden in der Regel jedoch nicht durch die Krankenkassen übernommen und daher noch nicht in jedem Brustzentrum durchgeführt.
Welchen Nutzen hat die genauere Kenntnis des Tumorstatus für Betroffene?
Thill: Mit Hilfe der pathologischen Feindiagnostik kann zum einen festgelegt werden, welche Therapie für welche Patientin sinnvoll ist, zum Beispiel bei positiven Hormon-Rezeptoren eine antihormonelle Therapie. So können wir auch Therapien ausschließen, die im konkreten Fall keinen Nutzen hätten. Zum anderen lässt sich bereits für viele Patientinnen unterscheiden, ob eine Chemotherapie notwendig ist oder nicht und ob die Chemotherapie bereits vor einer Operation durchgeführt werden sollte.
Darüber hinaus unterscheiden sich die Brustkrebs-Untergruppen hinsichtlich ihrer Aggressivität, folglich ist auch die Prognose verschieden. So wissen wir heute besser als noch vor einigen Jahren, welche Patientin eine aggressive Therapie erhalten sollte und welche Patientin mit einer weniger aggressiven Therapie auskommen kann. Damit kommen wir unserem Ziel, eine Übertherapie zu vermeiden und die damit verbundenen Nebenwirkungen zu vermindern, ein wenig näher. Somit hängt heute die gesamte Therapiestrategie von der Feinanalyse des Tumors ab.
FS