Dr. Frank Schäfer
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02.01.2023
Herr Professor Göbel, äußern sich Migräne-Attacken bei Kindern anders oder so wie bei Erwachsenen?
Göbel: Wie bei Erwachsenen kommen auch bei Kindern vor einer Migräne-Attacke Stimmungsveränderungen wie etwa Reizbarkeit vor. Sie erscheinen zudem blass, berichten häufiger von Bauchschmerz, Durchfall oder Verdauungsproblemen. Muskuläre Steifheit, Müdigkeit und Gähnen können auftreten. Kommt es zu einer Aura-Phase vor den Kopfschmerzen, gibt es wie bei Erwachsenen Sehstörungen und andere neurologische Symptome, die Kinder oft schwer beschreiben können. Das gilt auch für Beginn und Schwere des dann folgenden Kopfschmerzes sowie für seinen bei Migräne typischen pulsierenden Charakter. Der Schmerz betrifft bei Kindern meist den ganzen Kopf und nicht wie bei Erwachsenen oft nur eine Kopfhälfte. Auch wenn Kinder den Schmerzbeginn nicht richtig mitteilen, können Eltern ihn unter anderem daran erkennen, dass die Kinder plötzlich
mit dem Spielen oder Essen aufhören, weinen, gereizt oder irritiert sind.
Wie sieht es mit der Dauer der Kopfschmerzphase und Begleitsymptomen aus?
Göbel: Die Kopfschmerzphase verläuft oft kürzer als bei Erwachsenen. Die für Erwachsene typische Lärm- und Lichtüberempfindlichkeit bei einer Attacke können bei Kindern fehlen oder sich geringer ausprägen. Sie leiden oft stärker an Geruchsüberempfindlichkeit, Schwindel und Bauchschmerzen. Etwa 70 Prozent empfinden sogenannte autonome Symptome wie Gesichtsschwitzen oder Gesichtsröte, die bei Erwachsenen eher bei Clusterkopfschmerz vorkommen. Die Augen können sich röten oder tränen, die Nase laufen und Augenlider anschwellen. Nach Abklingen der Schmerzen klagen Kinder oft über Durst, Schläfrigkeit, Sehstörungen, Hunger, Kribbeln, Taubheit oder Augenschmerzen.
Gibt es bei Kindern auch sehr untypisch ablaufende Migräne-Episoden?
Göbel: Dabei handelt es sich um periodisch auftretende Symptome in der Kindheit. Dazu gehören die episodische Reiseübelkeit, periodische Schlafstörungen wie Schlafwandeln, Sprechen im Schlaf, Aufschrecken im Schlaf und Zähneknirschen. Sehr auffällig ist eine Variante mit periodisch auftretendem Erbrechen oder periodische Bauchschmerzen. Auch plötzlich auftretender Schwindel oder ein Schiefhals können episodische Migräne-Symptome in der Kindheit sein.
Sollten die Kinder bei Kopfschmerz ärztlich untersucht werden?
Göbel: Treten Kopfschmerzen im Leben neu auf und besteht noch keine Klarheit zur Entstehung und Art der Kopfschmerzen, sollte es auf jeden Fall eine ärztliche Diagnose und einen ärztlichen Behandlungsplan geben. Dazu gilt es, Kinder eingehend ärztlich zu untersuchen.
Gibt es vorbeugende Maßnahmen?
Göbel: Gleichtakt im Alltag ist wichtig, etwa ein regelmäßiger Tag-Nacht-Rhythmus und Mahlzeiten zu festen Zeiten. Besonders sollten Eltern auf ein ausreichendes kohlenhydratreiches Frühstück in Ruhe achten, und dass Kinder über den Tag genug trinken. Kinder brauchen Zeit für Entspannung und Ruhe, eine Begrenzung des Medienkonsums sowie genug Gelegenheit für Aufenthalte an der frischen Luft und Sport. Zur Vorbeugung können Kinder auch die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson zum Beispiel mit der Migräne-App lernen. Biofeedback ist auch wirksam und im Rahmen verhaltenstherapeutischer Behandlungen erlernbar.
Welche Allgemeinmaßnahmen helfen Kindern im Akutfall?
Göbel: Lokales Kühlen mit einem Coolpack von Stirn und Schläfen. Die Möglichkeit zum Rückzug und Schlaf reicht bei einem Teil der Kinder zur Therapie akuter Migräne-Attacken bereits aus. Dies stellt die Basistherapie dar. Eine weitgehende Reizabschirmung hilft ihnen ebenfalls.
Welche Medikamente kann man bei Bedarf Kindern bei Migräne-Attacken geben?
Göbel: Dafür wird vor allem Ibuprofen empfohlen − 10 Milligramm pro Kilo Körpergewicht. Ab dem 12. Lebensjahr kann man auch Acetylsalicylsäure in einer Dosierung von 500 Milligramm einsetzen. Besteht Übelkeit oder Erbrechen, kann man Domperidon ab dem 12. Lebensjahr geben. Bei Migräne von Jugendlichen ab dem 12. Lebensjahr sind Sumatriptan 10 Milligramm und Zolmitriptan 5 Milligramm als Nasenspray zugelassen. Lassen sich akute Migräne-Attacken damit nicht ausreichend behandeln, kann mit dem Arzt besprochen werden, ob und wie bei Kindern ab 12 Jahren und Jugendlichen im Einzelfall eventuell auch andere Triptane eingesetzt werden können. Sowohl Kinder als auch deren Eltern sollten gut über die Therapiemöglichkeiten der Migräne-Attacke informiert und auf die Notwendigkeit der frühzeitigen Einnahme des Akutmedikaments bei einer Attacke hingewiesen werden. Das verbessert Wirkung und Verträglichkeit der Mittel.