Hanke Huber
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15.02.2024
Eine Erkrankung gilt dann als selten, wenn sie bei höchstens fünf von 10.000 Menschen auftritt. Das trifft auf etwa 6.000 bis 8.000 Krankheiten zu. In Deutschland gehen Experten davon aus, dass seltene Erkrankungen mehr als vier Millionen Menschen betreffen. In der gesamten Europäischen Union sind es schätzungsweise 30 Millionen. Bis zu einer Diagnose haben viele Betroffene oft schon eine Arzt-Odyssee hinter sich. Das zeigt auch die Erfahrung von Professor Dr. Jürgen Schäfer, Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen (ZusE) des Universitätsklinikums Marburg. "In der Tat haben die meisten Patientinnen und Patienten, die zu uns kommen, bereits zahlreiche Arztbesuche und viele Krankenhausaufenthalte hinter sich gebracht. Leider ist auch die Wartezeit bei uns sehr lang, da wir als kleines Zentrum eine Vielzahl von Anfragen sehr intensiv und akribisch beantworten müssen. Das braucht einfach Zeit und führt leider zu langen Wartezeiten."
Lernen mit "Dr.House"
Das Marburger Zentrum ist eines von mittlerweile 37 bundesdeutschen Zentren für seltene Erkrankungen. Dabei war seine Entstehung recht ungewöhnlich, berichtet Internist Schäfer: "Letztlich begann es mit einer Vorlesungsreihe für Marburger Medizinstudierende zum Thema ›Seltene Krankheiten‹. Ich benutzte die beliebte Fernsehserie ›Dr. House‹ quasi als Türöffner, um die jungen Leute für seltene Erkrankungen und Strategien zur Diagnosefindung zu begeistern und in den Hörsaal zu locken." In der Serie sucht Dr. House, ein genialer Mediziner, aber rein menschlich schwieriger Charakter, die richtige Diagnose für schwer erkrankte Patienten. Meist geht es um Leben und Tod. "Das Format kam bei den Studierenden sehr gut an. Auch bei der Presse, als sie darauf aufmerksam wurde, und ich bekam den etwas zweifelhaften Titel des deutschen Dr. House."
Spezialisierte Zentren
Nachdem die Marburger Ärzte einige spektakuläre Fälle wie eine Kobaltvergiftung durch eine Hüftprothese, eine tropische Erkrankung durch das Aquarium oder eine neuartige Ionenkanalerkrankung auflösen konnten, die auch internationale Journale aufgriffen, seien sie von Anfragen verzweifelter Menschen regelrecht überrannt worden, berichtet Schäfer. Mit Unterstützung der Universitätsklinik wurde daraufhin das ZusE gegründet. "Sein Schwerpunkt ist die Diagnosefindung bei komplexen und seltenen Erkrankungen, bei denen andernorts keine belastbare Diagnose gestellt werden konnte." Einzelne Zentren in Deutschland haben zum Teil unterschiedliche Schwerpunkte. Eines in Münchener Zentren ist auf seltene Erkrankungen der Immunität spezialisiert. In Mainz gibt es ein Zentrum für seltene Erkrankungen des Nervensystems, an der Universität Erlangen das Zentrum für seltene Leber-, Pankreas- und Darmerkrankungen.
Ärztliche Spurensuche
Aufgrund der Seltenheit fehlen Erfahrungen mit der jeweiligen Krankheit. Die Symptome sind oft unspezifisch. Was auf eine seltene Erkrankung hin deuten kann, hat etwa die Universitätsmedizin Tübingen zusammengetragen. Danach äußern sich Symptome bei etwa 70 Prozent der Betroffenen bereits im Kindes- und Jugendalter. Sie betreffen oft nicht nur ein, sondern mehrere Organsysteme, sodass Erkrankte bei verschiedenen Fachärzten Rat suchen. Die Erkrankungen sind meist schwerwiegend, chronisch und progredient fortschreitend. Da bei vielen eine erbliche Komponente zugrundeliegt, haben häufig auch Angehörige Symptome.
"Es ist in der Regel das akribische Nachfragen und Sichten von Befunden, das uns ans Ziel führt", sagt Schäfer. "Wobei wir auch nicht immer eine Lösung finden. Und selbst wenn wir eine Diagnose haben, heißt das leider noch lange nicht, dass es dafür dann auch eine Therapie gibt. Die meisten seltenen Krankheiten kann man noch nicht heilen." Symptome lassen sich aber möglicherweise besser behandeln und vielen helfe es auch, wenn ihr Leiden einen Namen hat.
Ein schwieriges Puzzle
Der Marburger Experte spricht von Diagnose 1.0 bis 4.0. Am Anfang steht die Anamnese und die körperliche Untersuchung, gefolgt von Untersuchungen mithilfe von Geräten, zum Beispiel EKG, Ultraschall oder MRT und der Labordiagnostik, von Blutwerten bis hin zu Genanalysen. Bei Diagnose 4.0 kommt die moderne Computertechnologie ins Spiel, auch Künstliche Intelligenz. "Damit erweitern sich unsere Möglichkeiten enorm." So gelingt es dem Marburger Ärzteteam nicht nur, seltene Erkrankungen, sondern manchmal auch unerkannte Zusammenhänge aufzuspüren. Schäfer: "Wir hatten zum Beispiel einen Patienten, der wegen Diabetes mellitus mit Metformin behandelt wurde. Trotz der insgesamt guten Blutzuckerwerte entwickelte er eine schwere periphere Polyneuropathie – eine Nervenschädigung, die sich unter anderem durch Missempfindungen wie Kribbeln, Schmerzen oder Taubheit äußern kann. Dies wurde zunächst dem Diabetes zugeschrieben. Letztlich konnten wir aber zeigen, dass ein Vitamin B12-Mangel die Ursache war, der sich dann gut behandeln ließ. Leider wird oft vergessen, dass die Einnahme von Metformin in seltenen Fällen auch zu einem Vitamin B12-Mangel führen kann."
Unterstützung durch KI
Alle seltenen Erkrankungen mit allen Symptomen zu kennen, ist unmöglich. "Hier brauchen wir die Unterstützung von moderner Computertechnologie und leistungsfähigen Suchmaschinen. Noch nicht einmal zwingenderweise KI. Allerdings wird die KI uns bei der Diagnostik in absehbarer Zeit eine wertvolle Hilfe sein können. Wichtig ist für uns Mediziner hierbei, die Datenquelle zu kennen und zu wissen, dass der Datenschutz gewährleistet ist", so Schäfer. Und so führt die Detektivarbeit der Mediziner manchmal auch zur Entdeckung ganz neuer Krankheiten. "In der Tat finden wir – ebenso wie viele andere Zentren für seltene Erkrankungen – manchmal Krankheiten, die so in keinem Lehrbuch stehen. Es sind vor allem Mutationen in den regulativen Bereichen der Gene, die sogenannten Promotoren, die völlig neuartige Erkrankungen verursachen", so der Marburger Arzt.
Ein Beispiel, das auch veröffentlicht wurde, sei der Fall eines Patienten mit jahrzehntelangen immer wiederkehrenden Lähmungen. "Die Kenntnis des Gendefekts verhalf uns zu einer recht erfolgreichen Therapie. Die Lähmungen traten in dieser Form nicht mehr auf", beschreibt Schäfer das erfreuliche Ergebnis.