Psyche

Stefanie Stahl: "Wir sind unsere Psyche"

aponet.de  |  01.09.2023

Ihre Ratgeberbücher stehen seit Jahren auf den Bestsellerlisten. Mit uns spricht Psychotherapeutin Stefanie Stahl darüber, wie man mit Selbstreflexion und ein wenig Anleitung sich selbst und ein bisschen auch die Welt retten kann.

Stefanie Stahl
Stefanie Stahl will mit ihren Ratgeberbüchern helfen, ungünstige Prägungen aus der Kindheit zu erkennen und aufzulösen.
© Susanne Wysocki

Sie gelten als Deutschlands Psychologin Nummer 1. Warum wollten Sie Psychologie studieren?

Es hat mich von Kindesbeinen an interessiert, wie Menschen funktionieren. Ich habe mir schon sehr früh Gedanken gemacht, was unsere Grundstrukturen und was Motive für Anerkennung sind, oder dass jeder Mensch geliebt werden will.

In den letzten Jahren steigt das Interesse an psychologischen Themen. Wie erklären Sie sich das?

Wir sind im Grunde ja unsere Psyche. Ich bin eher immer fassungslos, dass das Interesse erst jetzt aufkommt.

Wie meinen Sie das?

Das menschengemachte Unglück auf der Welt entsteht ja aus Gefühlen von Minderwertigkeit und dem Mangel an Wahrnehmung, aus Machtstreben, Geldgier, Neid, Hinterhältigkeit. Das sind alles Ergebnisse einer nicht vorhandenen Selbstreflexion. Deswegen lässt sich der Zustand dieser Welt im Wesentlichen darauf zurückführen, dass die Menschen nicht viel früher angefangen haben, ihre Psyche zu verstehen, sich selbst zu reflektieren und die Zusammenhänge zu verstehen. Wenn ich beispielsweise das Gefühl habe, dass ich minderwertig bin und nicht genüge, nehme ich andere Menschen schneller als feindselig oder überlegen wahr. Und Unterlegenheitsgefühle machen leicht aggressiv. Dabei ist es egal, ob es sich um den Nachbarn handelt oder um zwei benachbarte Staaten.

Wie lässt sich das ändern?

Was Menschen denken und fühlen, ist sehr subjektiv und fast immer das Ergebnis einer sehr willkürlichen Prägung. So hat jeder unbewusste psychische Programme, die uns steuern. Wenn ich mehr Entscheidungsfreiheit haben und mein Leben freier und glücklicher gestalten möchte, dann muss ich diese Programme verstehen. Das ist wie in der Medizin. Ich brauche erst die Diagnose. Wenn ich die nicht habe oder gar nicht merke, dass ich krank bin, schreitet die Krankheit fort. Ich muss erstmal merken, wo bei mir etwas nicht ganz rund läuft.

Wenn wir uns mehr mit unserer Psyche auseinandersetzen, können wir also bessere Menschen werden?

Ja, je wohler ich mich in meiner Haut fühle, desto wohlwollender kann ich auch andere Menschen wahrnehmen. Ein konkretes Beispiel: Jonas hat das chronische Gefühl, zu kurz zu kommen, und dass er nicht genügt. Das kann dazu führen, dass er mit Ellenbogen durchs Leben geht und dadurch häufig aneckt. Wenn er das realisiert, ist das der erste Schritt. Dann wirft er einen Blick in die Kindheit zurück und stellt fest: Ich bin damals immer zu kurz gekommen. Wir waren vier Kinder und meine Eltern waren immer gestresst. Aber stimmt das wirklich heute noch? Sobald er merkt, dass das alte Programm in der Gegenwart abläuft, kann er eine Wahrnehmungskorrektur vornehmen und sagen: Hier am Verhandlungstisch sitzen nicht Mama und Papa, ich bin groß und ich kann auch mit anderen Mitteln meine Anliegen vortragen. Denn ich bin auf Augenhöhe mit anderen Menschen. Wenn ich immer mit der Kinderbrille durch die Gegend laufe, komme ich zu vielen Fehleinschätzungen und deshalb zu falschen Entscheidungen.

Hat jeder solche störenden Muster?

Im Grunde schon, denn es gibt keine perfekten Eltern und keine perfekten Kindheiten. Jeder hat irgendwo eine Prägung, die vielleicht nicht nur gesund ist. Ich spreche da in meinem Podcast "Stahl aber herzlich" mit einem Augenzwinkern von "normalgestört". Da braucht man keine Psychotherapie. Diese ist für Menschen vorbehalten, die eine psychische Erkrankung haben. Aber viele kämpfen mit Alltagsproblemen. Sie kommen in der Partnerschaft nicht klar oder finden keinen Partner. Sie fühlen sich auf der Arbeit gestresst oder kämpfen mit Ängsten, von denen sie wissen, dass sie übertrieben sind. Ganz viele dieser Menschen können sich selbst helfen, wenn man ihnen einen roten Faden an die Hand gibt.

Und wem raten Sie doch zu einer Therapie?

Das ist überall da der Fall, wo das Päckchen sehr schwer ist. Wo die Menschen sagen, ich bin stark belastet und fühle mich überfordert, das allein zu machen. Oder wenn man merkt, man tritt auf der Stelle. Die meisten Betroffenen spüren das ganz gut selbst, wenn sie sich erstmal auf den Weg machen. Aber es gibt auch viele, die mit meinen Büchern gut klarkommen und sagen, das reicht mir.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Katrin Faßnacht-Lee.

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