Streit im Urlaub kann also auch etwas Gutes sein?
Krahé: "Ja, unbedingt. Denn gerade im Alltag ist häufig schlicht kein Platz, um Probleme zu besprechen, die einem vielleicht schon länger auf der Seele brennen. Ich empfehle, solche Dinge dann anzusprechen, wenn man gerade selbst nicht emotional geladen ist und Ruhe hat – und da ist der Urlaub nicht gerade die schlechteste Gelegenheit."
Was kann man tun, damit ein Streit nicht den ganzen Tag ruiniert?
Krahé: "Dazu gehört natürlich eine gute Streitkultur, also in erster Linie ein respektvoller Umgang miteinander. Trotzdem streitet jedes Paar und jede Familie anders: Bei einigen gehört es dazu, dass auch mal verbal die Fetzen fliegen und es laut wird. Dann ist der Streit ein ‚reinigendes Donnerwetter‘. Wenn sich die Gemüter abgekühlt haben, geht man wieder aufeinander zu und versöhnt sich. Für einige funktioniert das gut, und das ist auch in Ordnung. Bei anderen Menschen löst lautes Streiten aber enormen Stress und Ängste aus, weil sie vielleicht in der Vergangenheit negative Erfahrungen damit gemacht haben. Hier gilt ist, die persönliche Schmerzgrenze zu kennen und auch offen zu kommunizieren, damit der Partner Rücksicht nehmen kann. Eine Möglichkeit ist, ein ‚Stoppsignal‘ zu vereinbaren, zum Beispiel ein Wort oder eine Geste, um den Streit erst einmal zu pausieren, wenn es zu laut oder zu emotional wird."
Häufig beginnen die Streitigkeiten aber auch schon vor dem Urlaub, etwa wenn man sich über das Reiseziel nicht einig ist.
Krahé: "Das stimmt. Unterschiedliche Erwartungen können natürlich auch zu Konflikten führen: Möchte ich ans Meer, in eine Großstadt oder in die Berge? Lieber entspannen oder aktiv sein? In den Flieger steigen oder mit dem Auto fahren? In einer abgeschiedenen Ferienhütte oder in einem Club-Hotel übernachten? Hier hat jeder seine eigenen Bedürfnisse, und nur selten stimmen diese hundertprozentig mit denen des Partners oder der Kinder überein."
Wie lässt sich hier ein Kompromiss finden?
Krahé: "Wichtig ist, schon bei der Planung des Urlaubs über die Frage zu sprechen: Wie sieht für mich ein gelungener Urlaub aus? Dabei dürfen in Familien auch die Kinder zu Wort. Dann gilt es, gemeinsam zu überlegen, wie man die unterschiedlichen Bedürfnisse in Einklang bringen kann. Es ist auch völlig in Ordnung, als Paar im Urlaub einige Stunden oder vielleicht sogar Tage getrennt voneinander zu verbringen. So kann der eine in der Hängematte liegen und ein Buch lesen und der andere in der Stadt auf Entdeckungstour gehen."
Ist es auch in Ordnung, den Urlaub getrennt voneinander zu verbringen?
Krahé: "Unbedingt! Wenn sich partout kein Kompromiss finden lässt und die Bedürfnisse sehr weit auseinander gehen, würde ich das sogar empfehlen. Daran scheitert keine Beziehung – sondern viel eher daran, dass man sich ständig für den anderen verbiegt. Hier lohnt es sich, das Bild zu hinterfragen, das man von einem perfekten Urlaub hat: Man muss nicht zwei Wochen am Stück jede Minute miteinander verbringen. Dinge getrennt voneinander zu erleben, bedeutet nicht automatisch, dass die Partnerschaft unglücklich oder gar zum Scheitern verurteilt ist – im Gegenteil. Sich gegenseitig solche Freiheiten zuzugestehen, kann für die Beziehung sehr wohltuend sein."
Wenn man nun erholsame Ferien verbracht hat: Wie schafft man es, dieses ‚Urlaubsgefühl‘ mit in den Alltag zu nehmen?
Krahé: "Der ‚ganz normale Wahnsinn‘ führt in der Tat schnell dazu, dass von der Urlaubsentspannung schon nach kurzer Zeit nicht mehr viel übrig ist. Ich rate deswegen dazu, den Urlaub auch dafür zu nutzen, den Alltag einmal gemeinsam zu reflektieren: Wollen wir genauso weitermachen, wie bisher? Oder gibt es kleine oder größere Dinge, die wir ändern können? Gerade im Urlaub kommt man hier oft auf gute Ideen: zum Beispiel eine Putzhilfe zu engagieren, sich regelmäßig zu einem gemeinsamen Pasta-Abend zu verabreden oder jeden Morgen früher aufzustehen, um Zeit für Yoga oder eine Jogging-Runde zu haben. Dazu kann man auch einfach ein kleines Experiment machen und sich vorstellen, man hätte gerade Urlaub: Was würde ich dann anders machen? Und dann kann man überlegen, an welchen Stellen im Alltag auch mal das ‚Urlaubs-Ich‘ die Regie übernehmen darf."
Vielen Dank für das Gespräch!