Herr Professor Nienhaus, welches sind Warnzeichen beruflicher Überforderung?
Nienhaus: Ein ganz wichtiges Zeichen ist, dass plötzlich die Arbeitsleistung nachlässt. Jemand, der sonst seine Arbeit gut hinbekommen hat, benötigt länger für seine Tätigkeit. Er macht Überstunden, reagiert gereizt und nervös.
Spielen nur die Überstunden eine Rolle, wenn die Zeit nicht reicht?
Nienhaus: Nein. Wen die Arbeit überfordert, der kommt plötzlich nicht mehr pünktlich oder erscheint auf einmal unregelmäßig. Zudem häufen sich Krankmeldungen. Vor allem Männer versuchen außerdem, den zunehmenden Stress mit Alkoholkonsum zu kompensieren.
Apropos Alkohol: Greifen Frauen in solchen Situationen nicht auch zur Flasche?
Nienhaus: Typischerweise nicht. Frauen reagieren auf Stresssituationen oft mit Schlafstörungen. Diese können dazu führen, dass sie sich morgens nicht erholt fühlen und es nicht mehr schaffen, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen.
Welche Warnsymptome gibt es im privaten Umfeld?
Nienhaus: Wer merkt, dass er keine Zeit mehr für seinen Sport oder Spaziergänge findet, nimmt sich Ressourcen und Kraft, mit Herausforderungen im Arbeitsumfeld umzugehen. Auch wenn der Partner sagt "Du bist nervös und gereizt", sollte man sich davon nicht bloß genervt fühlen, sondern es als mögliches Warnzeichen ernst nehmen.
Wie unterscheidet man ein paar schlechte Tage von Dauerüberlastung?
Nienhaus: Es ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich, ob man sich schneller oder langsamer von seinem Beruf überfordert fühlt. Von heute auf morgen passiert dies jedoch nicht. Psychische Überforderungen, die bis zum Burn-out führen können, entwickeln sich über Monate oder gar Jahre.
Was kann man selbst tun, wenn man sich beruflich überfordert fühlt?
Nienhaus: Ich empfehle zuerst darüber nachzudenken, ob sich bei der Arbeit etwas verändert hat: Gibt es neue Anforderungen? Stehen eilige Projekte an? Hat sich die Struktur in der Firma verändert? Dann rate ich, zum Vorgesetzten zu gehen und mit ihm darüber zu sprechen, ob sich die Arbeit anders organisieren lässt. Manchmal schafft man seine Arbeit auch nicht mehr, weil private Probleme auftreten. Auch hier lautet meine Empfehlung, dies mit seinem Vorgesetzten zu besprechen und ihn zu fragen, ob man vorübergehend von einem Teil der Arbeit entlastet werden kann.
Was kann der Vorgesetzte tun, wenn er Überlastungen bei Mitarbeitern bemerkt?
Nienhaus: Der Vorgesetzte sitzt an einer Schlüsselposition, da er die Tätigkeiten in seiner Abteilung anders verteilen kann. Vorgesetzte können durch eine vorausschauende Planung die Gesundheit der Mitarbeiter positiv beeinflussen. Das belegt unter anderem eine Studie, die wir bei Beschäftigten im Gesundheitswesen und der Wohlfahrtspflege durchgeführt haben.
Sollten sich Kollegen, die etwas bemerken, an Vorgesetzte wenden?
Nienhaus: Nein, sie sollten immer zuerst mit dem betroffenen Kollegen reden. Über die Arbeitsleistung eines Kollegen mit dem Vorgesetzten zu sprechen, ist ein absolutes No-Go. Das sollte man erst tun, wenn man den Kollegen im Gespräch nicht erreicht hat und seine Überlastung weiter zunimmt. Manchmal hilft es auch, Kontakt mit Vertrauensmitarbeitern oder der betrieblichen Interessenvertretung aufzunehmen.
Hat die berufliche Belastung in den vergangenen Jahren zugenommen oder nur das öffentliche Interesse an dem Thema?
Nienhaus: Sicher ist die Sensibilität für das Thema größer geworden. Ich glaube aber, dass die psychischen Belastungen im privaten und beruflichen Leben zugenommen haben. Es gibt heute viel mehr Möglichkeiten, die Arbeit zu gestalten und auch Entscheidungen zu treffen. Dies macht die Berufswelt auf der einen Seite interessanter. Es schafft auf der anderen Seite aber auch neuen Druck, sich immer wieder für etwas entscheiden zu müssen und auch die daraus entstehenden Konsequenzen zu tragen.
Welche Rolle spielen moderne Medien?
Nienhaus: Die Möglichkeit, per E-Mail und Smartphone auch abends und am Wochenende erreichbar zu sein, erhöht für viele die berufliche Belastung. Hier ist es wichtig, von betrieblicher, aber auch von privater Seite klare Regeln zu setzen, wann man sich den modernen Medien anvertraut und wann nicht. Man darf nicht ständig erreichbar sein.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stelle Peter Erik Felzer.