Psyche

Wer benötigt wirklich eine Psychotherapie?

ZOU  |  10.10.2024

Zwei Psychologen äußern sich in einem Fachblatt besorgt darüber, dass die Nachfrage für Psychotherapie das Angebot bei Weitem übersteigt. In ihren Augen werden zu viele Menschen in belastenden Situationen behandelt, die jedoch normale Lebensphasen darstellen.

Junger Mann bei der Psychotherapie.
Wer sich in Deutschland derzeit um eine Psychotherapie bemüht, wartet im Schnitt fünf Monate auf den ersten Termin.
© zamrznutitonovi/iStockphoto

Prof. Dr. Marcus Roth und Prof. Dr. Gisela Steins von der Universität Duisburg-Essen wissen, dass sie ein heißes Eisen anfassen – und dennoch: „Wenn wir das Thema jetzt nicht diskutieren, wird es eine sehr harte Diskussion, wenn die Kassen aufgrund des demographischen Wandels leerer sind“, so Roth. Denn: Mehr als ein Viertel der Erwachsenen in Deutschland hat laut Daten des Robert-Koch-Instituts eine psychische Störung.

Das führt dazu, dass die durchschnittliche Wartezeit bis zum ersten Termin 20 Wochen beträgt, obwohl sich zwischen 2006 und 2021 sich die Anzahl der psychotherapeutischen Fachkräfte mehr als verdoppelt hat. Gründe dafür sehen Roth und Steins in Überdiagnosen und Behandlungen von Störungen, die eigentlich keine sind. So ist eine der häufigsten Diagnosen die „Anpassungsstörung“ – meist eine Krise aufgrund eines tragischen Ereignisses. Roth stellt die Behandlungsbedürftigkeit in vielen dieser Fälle in Frage, denn sie sind häufig ein normaler Teil des Lebens und in der Regel ohne professionelle Hilfe nach einigen Monaten überstanden: „Jeder zweite verheiratete Mensch wird den Verlust des Partners oder der Partnerin erleben müssen; fast alle den Tod der Eltern.“

Stein und Roth begrüßen es, dass eine Psychotherapie heute von den meisten Menschen eine akzeptierte Behandlungsmethode ist. Doch genau dies führt auch zu einer übermäßigen Inanspruchnahme, die nach sich zieht, dass behandlungsbedürftige Menschen keine oder erst sehr spät Hilfe bekommen.

Als Alternativen schlagen Stein und Roth für Menschen in schwierigen Situationen niedrigschwellige Angebote vor, wenn sie nicht wirklich eine Psychotherapie benötigen. Das können zum Beispiel Coachingsitzungen, Beratungen, Selbsthilfegruppen oder Online-Angebote sein.

Quelle: DOI 10.1026/0033-3042/a000678

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