Natascha Plankermann
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01.03.2021
Frau Professor Möller-Leimkühler, weshalb gilt die Depression fälschlicherweise noch immer als typische Frauenkrankheit?
Möller-Leimkühler: Studien zeigen, dass Frauen zwei- bis dreimal häufiger als Männer die Diagnose "Depression" erhalten. Dahinter stehen historische Vorstellungen, die ins 19. Jahrhundert zurückreichen: Frauen galten als das schwache, kranke Geschlecht im Gegensatz zum starken, gesunden Mann. Dank der Emanzipation von Frauen hat sich vieles verändert, aber immer noch werden zum Beispiel konventionelle Symptome einer Depression mit angeblich typisch weiblichen Eigenschaften in Verbindung gebracht: Traurigkeit, depressive Stimmung, Antriebs- und Interesselosigkeit.
Wird die Erkrankung bei Männern häufig einfach nicht erkannt?
Möller-Leimkühler: Ja, weil Männer die genannten Symptome nicht so oft angeben wie Frauen. Sie interpretieren sie als Schwäche und Versagen – was nicht zu ihrem Selbstbild und zu den gesellschaftlichen Rollenerwartungen passt. Außerdem dem sind in den Köpfen vieler Ärzte die Geschlechterklischees noch fest verankert. Hinzu kommt, dass Männer meist weniger Zugang zu ihren Gefühlen haben als Frauen und schlechter darüber sprechen können.
Also sind Männer anders depressiv?
Möller-Leimkühler: Sie gehen anders mit depressiven Gefühlen um, zeigen eher ausagierende Verhaltensweisen. Friedfertige Typen werden beispielsweise plötzlich aggressiv und bekommen Wutanfälle. Oder sie entwickeln suchtähnliches Verhalten und stürzen sich in die Arbeit, machen Überstunden, hängen ständig vor dem Computer. Manche versuchen, sich mit exzessivem Sex zu entspannen – was ebenso wenig gelingen kann wie die Selbstmedikation mit zu viel Alkohol. Das Belohnungssystem will ständig mehr, das kann auch extremer Sport sein. Ich kannte einen Patienten, der täglich 300 Kilometer mit dem Rennrad um den Chiemsee raste, und das in möglichst kurzer Zeit. Es hat ihm auch nicht geholfen.
Woran erkennen Außenstehende, ob solche Verhaltensweisen auf eine Depression hinweisen?
Möller-Leimkühler: Depressive Männer ziehen sich vielfach von der Familie und Freunden zurück, sind verschlossen, reizbar sowie aggressiv und machen andere für die eigene Befindlichkeit verantwortlich. Außerdem können sie sehr empfindlich auf Kritik reagieren.
Wie lassen sich betroffene Männer zum Arztbesuch bewegen?
Möller-Leimkühler: Männer nehmen häufig erst dann ärztliche Hilfe an, wenn sie schon unter schwerwiegenden Symptomen leiden oder die Frau mit der Scheidung droht. Um sie früher dazu zu bewegen, medizinischen Rat zu suchen, sollte man als Angehöriger keine guten Ratschläge geben und auch nicht von einer Depression sprechen. In vielen Fällen ist es besser, über Stress, Burn-out und mögliche Folgewirkungen zu reden. Zu diesen Folgen gehört etwa, dass das vegetative Nervensystem aus dem Gleichgewicht gerät, der Stresshormonlevel ständig zu hoch ist und schließlich das Immunsystem entgleist. Man kann sich nicht mehr entspannen, schläft schlecht. Auf Dauer kann es dann zur Depression kommen. Inzwischen gibt es ja bekannte Vorbilder wie den Ausnahmefußballer Sebastian Deisler, der immer wieder mit Depressionen zu kämpfen hatte und den Fußball aufgab. Das Thema ist nicht mehr ganz so tabu wie früher. Informationen über Depression sind wichtig, um Vorurteile abzubauen. Viele Männer wissen nicht, dass Depressionen potenziell tödlich und häufiger als Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind.
Wie kann eine Therapie aussehen?
Möller-Leimkühler: Psychotherapie, zum Beispiel die kognitive Verhaltenstherapie, ist genauso effektiv wie bei Frauen. Allerdings ist das für viele Männer nicht attraktiv, weil sie lieber "machen" statt "quatschen". Es müsste in der Psychotherapie aber mehr auf typische Problemlagen von Männern eingegangen werden.
Welche Durchhaltestrategien gibt es bei der Behandlung und welcher Erfolg ist zu erwarten?
Möller-Leimkühler: Wer erwartet, dass alles schnell geht, steht sich selbst im Weg, denn eine Behandlung ist keine Autoreparatur. Und eventuelle Ängste vor Antidepressiva müssen abgebaut werden, denn diese Medikamente räumen mit dem biochemischen Chaos im Gehirn auf, ohne dass sie abhängig machen.
Was müssen Partner beachten?
Möller-Leimkühler: Bei aller Rücksicht auf den Betroffenen müssen sie gut auf ihre eigenen Bedürfnisse achten, um nicht in die Opferrolle zu geraten.
Welche Folgen kann es haben, wenn Betroffene keine Therapie erhalten?
Möller-Leimkühler: Wird die Depression chronisch, kann sie immer schlechter behandelt werden. Depressionen sind heute die häufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung. Ein dadurch bedingter sozialer und ökonomischer Abstieg führt auch zu familiären Schwierigkeiten und zu sozialer Isolation. Hinzu kommen in vielen Fällen Folgekrankheiten wie Alkoholabhängigkeit, Herzinfarkt und Schlaganfall oder Diabetes − mit einer insgesamt erhöhten Sterblichkeit. Außerdem schnellt das Suizidrisiko in die Höhe, wenn die Depression nicht erkannt und behandelt wird.
Vielen Dank für das Gespräch!