05.07.2016
Betroffene leiden unter diesem Essverhalten und dem damit verbundenen körperlichen Folgen sehr stark. „Manche Patienten beschreiben ihren Zustand während einer Essattacke als seien sie nicht sie selbst, die handeln. Einige berichten, dass sie über mehrere Stunden unkontrolliert essen und nicht klar angeben können, wann der Essanfall angefangen und aufgehört hat. Nach einer Essattacke fühlen sich meist schuldig, deprimiert und sind angewidert von sich selbst und ihrem Verhalten“, berichtet Dr. Christa Roth‐Sackenheim vom Berufsverband Deutscher Psychiater (BVDP) mit Sitz in Krefeld. Die Essattacken kommen immer wieder, sie können zweimal wöchentlich aber auch mehrmals täglich auftreten. Oft finden sie statt, wenn die Personen alleine sind, in Gemeinschaft essen sie normal oder vermeiden gar aus Scham das Essen in Gesellschaft komplett.
Zur psychischen Belastung kommen körperliche Folgeerkrankungen
Im Unterschied zu Menschen mit Bulimie ergreifen Betroffene jedoch keine Gegenmaßnahmen wie Erbrechen, den Gebrauch von Abführmitteln oder übermäßige sportliche Aktivität, um dem Körper den Nahrungsüberschuss wieder zu entziehen. Das hat zufolge, dass erkrankte Personen meist übergewichtig sind oder werden, was einen zusätzlichen Leidensdruck erzeugt. „Aus Scham wegen des zunehmend als unförmig erlebten Körpers entwickeln Betroffene meist ein negatives Verhältnis zu körperlicher Bewegung. Auch kann das Übergewicht je nach Ausmaß körperliche Beeinträchtigungen zufolge haben und körperliche Bewegung zusätzlich einschränken“, erklärt die Psychiaterin und Psychotherapeutin aus Andernach.
Durch das erhöhte Körpergewicht entwickeln sich dann ähnliche Folgeschäden wie bei einer ausgeprägten Adipositas wie Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen, Gicht, Krampfaderleiden sowie Schäden am Skelett‐ und Bewegungsapparat. Eine frühzeitige Behandlung ist daher wichtig, um Folgeschäden zu begrenzen oder zu verhindern.
Teufelskreis durchbrechen
Personen, die unter einer Binge‐Eating‐Störung leiden, kommen häufig erst nach vielen fehlgeschlagenen Diätversuchen in Behandlung. Die vielen erlebten gescheiterten Selbstheilungsversucht beeinträchtigen das Selbstwertgefühl zusätzlich. Der erste Schritt für eine erfolgreiche Therapie ist es, sich einzugestehen, dass man eine Essstörung hat und professionelle Hilfe benötigt. Je nachdem wie ausgeprägt die Störung ist und wie lange sie schon besteht, stehen verschiedene Hilfsangebote und Therapiemöglichkeiten offen. Erste Anlaufstellen können Beratungsstellen sein, die unverbindlich über Hilfsmöglichkeiten informieren. Auch kann der Hausarzt angesprochen werden oder direkt ein Facharzt aufgesucht werden.
Inzwischen bieten auch viele Kliniken Informationen über ihre Arbeit im Internet an. „Bei der Behandlung der Binge‐Eating Störung ist es in der Regel zuerst notwendig, aus dem Teufelskreis von Hungern, Heißhunger und Essattacken auszubrechen und ein regelmäßiges bedarfsorientiertes Essen sicher zu stellen“, so Roth-Sackenheim. Zudem können im Rahmen einer Therapie die psychischen Hintergründe des Essverhaltens geklärt und behandelt werden, damit Betroffene dauerhaft auf Essattacken verzichten können. „Denn die Essattacken werden auch zum Abbau innerer Spannungszustände eingesetzt oder zur Veränderung der Stimmungslage. Auslöser können eine negative Stimmung, Kränkung, Frustration, Wut, Traurigkeit oder auch Angst sein.“ Zuweilen können auch positive Emotionen zu einer Essattacke führen. Es gibt auch Betroffene, bei denen die Essanfälle scheinbar nicht im Zusammenhang mit der Stimmungslage oder emotionalen Reizen auftreten.
Vor allem Erwachsene betroffen
Bei einem Teil der Erkrankten liegen parallel Depressionen, Angsterkrankungen oder andere psychische Störungen vor. Diese müssen berücksichtigt und mitbehandelt werden. An der Entwicklung und Aufrechterhaltung dieser Essstörung sind viele Faktoren beteiligt. Als Risikofaktoren gelten u.a. ein ausgeprägter Schlankheitsdrang, Unzufriedenheit mit der Figur und eine Überbewertung der äußeren Erscheinung. Auch ein geringes Selbstwertgefühl, wenig soziale Unterstützung sowie depressive Symptome und emotionales Essverhalten erhöhen das Risiko. Der Erkrankungsgipfel der Binge‐Eating‐Störung liegt im dritten Lebensjahrzehnt – also später als bei Magersucht oder Bulimie. Sie tritt häufiger auf als diese beiden Essstörungen und verteilt sich auf beide Geschlechter. Von einer Binge‐Eating‐Störung sind etwa drei Prozent der Bevölkerung betroffen – meistens Erwachsene.
BVDP/NK