Neuer Wirkstoff gegen Multiple Sklerose

Seit letztem Jahr ist in Europa ein neuer Arzneistoff gegen Multiple Sklerose (MS) zugelassen. Die neue Substanz, Fingolimod genannt, vermindert die Zahl der MS-Schübe, bremst das Voranschreiten von Behinderungen und kann als Kapsel eingenommen werden.

Kapsel
Für viele Patienten ist es eine große Erleichterung, wenn sie neue Arzneistoffe nicht mehr spritzen müssen, sondern als Kapsel einnehmen können.
© Allianz

Etwa 120.000 Menschen leiden hierzulande an einer über Jahre oft schubförmig verlaufenden Erkrankung des Zentralen Nervensystems, fachlich Multiple Sklerose oder kurz MS genannt. Schon der Name deutet an, was man dabei im Gehirn vorfindet: viele (multiple) bindegewebsartige Vernarbungen (Sklerosen).

Die Vernarbungen im Gehirn und im Rückenmark sind Folge fehlgeleiteter Angriffe körpereigener Abwehrzellen, die sich gegen das Nervengewebe richten. Heilbar ist das Leiden bisher nicht, aber der Verlauf kann verlangsamt und die Beschwerden können gemildert werden.

Bisherige Therapie oft unangenehm

Betroffene leiden zu Beginn unter Taubheitsgefühlen und Kribbeln, möglicherweise unter einer Schwäche in den Beinen, im weiteren Verlauf oft unter körperlicher und seelischer Erschöpfung, Blasenfunktionsstörungen und einer krampfartig erhöhten Muskelspannung. Es kann nach Jahren zu stärkeren Behinderungen kommen.

Um diese Entwicklung zu bremsen, sollte die Behandlung möglichst früh beginnen, am besten mit dem ersten eindeutigen Schub. Dabei wird das überreagierende Immunsystem mit Medikamenten gedämpft. Bisher geschieht das dauerhaft mit Wirkstoffen wie Interferon-beta, Glatirameracetat oder bei Bedarf zeitweise mit Kortison. Interferon-beta und Glatirameracetat müssen sich die Patienten nach einer ausführlichen ärztlichen Anleitung selbst spritzen, was vielen Betroffenen nicht leicht fällt. Mögliche lokale Hautreaktionen verursachen zusätzlich Unannehmlichkeiten.

Und das bleibt nicht ohne Folgen, erklärte der Neurologe Professor Dr. Bernd Kieseier auf einer Pressekonferenz in Düsseldorf: "Wie Verlaufsbeobachtungen zeigen, brechen bis zu 20 Prozent der Patienten die Therapie mit Interferon-beta schon in den ersten sechs Monaten ab. Nach drei bis fünf Jahren hat etwa jeder dritte Patient die Therapie beendet." So besteht nach Kieseiers Einschätzung schon lange der Wunsch vieler Patienten nach einer verbesserten Behandlungsmöglichkeit. Und diese steht nun zur Verfügung.

Neue Therapie ohne Spritzen

Betroffene, die trotz der bisherigen Behandlungsmöglichkeiten noch eine hohe Krankheitsaktivität zeigen, können den Arzneistoff Fingolimod bekommen. Er ist außerdem für Patienten mit einer rasch voranschreitenden MS-Form zugelassen. Neu an Fingolimod ist, dass man den Arzneistoff als Kapsel einnehmen kann und somit nicht mehr spritzen muss – eine große Erleichterung für viele Patienten.

Völlig neu ist auch die Wirkweise von Fingolimod – einer der Gründe, warum dafür 2011 der begehrte Innovationspreis der Pharmazeutischen Zeitung verliehen wurde. Der ehemalige Chefredakteur der Pharmazeutischen Zeitung, Professor Dr. Hartmut Morck, zum Wirkprinzip: "Fingolimod ähnelt natürlicherweise im Körper vorkommenden Stoffen, den Sphingosinen. Diese steuern unter anderem die Auswanderung spezieller Abwehrzellen aus Lymphknoten. Fingolimod verhindert die Auswanderung. Und es vermindert das Eindringen der Abwehrzellen ins Gehirn oder Rückenmark, wo sie bei MS an Entzündungen und der Zerstörung von Nervengewebe beteiligt sind."

Gefangene Abwehrzellen

Die aggressiven, eine MS fördernden Abwehrzellen sind dank Fingolimod regelrecht in den Lymphknoten gefangen. Im Gegensatz zu vielen anderen das Immunsystem dämpfenden Arzneistoffen beeinflusst Fingolimod die nicht an der MS-Entstehung beteiligten Abwehrzellen kaum. Die Reaktion des Abwehrsystems auf Krankheitserreger wird also weniger stark unterdrückt.

Dennoch empfiehlt es sich, Infektionen dem Arzt mitzuteilen. Wer nicht mehr ausreichend oder gar nicht gegen Windpocken-Viren immun ist, sollte sich bei Bedarf vor der Anwendung von Fingolimod impfen lassen. Generell ist zu überlegen, auch noch andere notwendige Impfungen vor Beginn der Behandlung durchzuführen. Zu beachten ist auch, dass Fingolimod vorübergehend die Herzschlagrate verringert – was normal kaum Probleme bereitet. Herzkranke MS-Patienten sollten jedoch einen Kardiologen befragen, ob sich der neue Arzneistoff für sie eignet.

Weniger MS-Schübe

An Patienten wurde Fingolimod umfangreich getestet. In 31 Ländern beteiligten sich mehr als 6.300 Patienten an dem Studienprogramm. Eine Studie über ein Jahr zeigte, dass Fingolimod in diesem Zeitraum die Anzahl der MS-Schübe gegenüber Interferon-beta halbierte. Auch Studien über fünf Jahre belegen eine verringerte Schubrate.

Im Vergleich zu einem Scheinmedikament, also einem Placebo, gab es rund ein Drittel weniger Fälle, in denen Behinderungen voranschritten. Auch die Zahl der Schübe, die mit Kortison behandelt werden mussten, sank im Vergleich zu mit Interferon-beta behandelten Patienten deutlicher, ebenso die Anzahl schwerer Schübe mit Krankenhausaufenthalten. Positives zeigte sich zudem in der "Röhre", im MRT: Verglichen mit Interferon-beta ging unter Fingolimod die Zahl neuer oder sich vergrößernder Entzündungsherde im Gehirn um 35 Prozent zurück, im Vergleich zu Placebo sogar um 74 Prozent.

Studie zur Langzeitanwendung

Im Mai vergangenen Jahres startete eine Studie, um Langzeiterfahrungen mit Fingolimod zu dokumentieren. Geplant ist, mehr als 4.000 mit Fingolimod behandelte MS-Patienten einzubeziehen, darunter auch schwangere Patientinnen.

Heilen kann Fingolimod MS leider ebenso wenig wie alle anderen bislang gegen das Leiden eingesetzten Therapien, doch es bietet eine lang erhoffte neue und vergleichsweise einfache Behandlungsmöglichkeit.

Dr. Frank Schäfer

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